Kalkar / Kreis Kleve. Unbegleitete Minderjährige landen nach langer Flucht im Kreis Kleve. Alle 16 Kommunen suchen jetzt eine Lösung. Wie das Wunderland Kalkar hilft.
Immer wieder kämpfen sich 15-Jährige, 16- und 17-Jährige ab Syrien und ab Afghanistan ganz allein nach Deutschland durch. „Sie flohen her, um ein besseres Leben zu finden“, beschreibt André Amourette vom Fachbereich Jugend und Familie des Kreises Kleve. 41 von ihnen sind zurzeit im Kreis untergebracht, 14 im Wunderland Kalkar. Das Land verteilt sie gleichermaßen. Wie viele in welcher Woche kommen, weiß niemand.
Im Jahr 2022 sind die Jugendhilfeeinrichtungen „alle bis unters Dach voll“
Die Kommunen haben die Unterbringung mitzutragen – im ehemaligen Franziskushaus in Kleve, im Anna-Stift in Goch oder St. Josefs-Haus in Wachtendonk oder auch in den Asylunterkünften. Bei Minderjährigen ist nicht die Kommune zuständig, in der die Kinder aufschlagen, sondern das jeweilige Jugendamt -- so lange, bis sie 18 Jahre alt sind. Die größeren Städte haben ihr eigenes Jugendamt. Für die elf kleineren Kommunen übernimmt das Kreisjugendamt die Aufgabe – im Nordkreis für die Städte Kalkar und Rees sowie die Gemeinden Bedburg-Hau, Kranenburg, Uedem und Weeze.
„Da schlägt der Fachkräftemangel stark zu“
In den Jahren 2016 und 2017 kamen allein reisende Flüchtlingskinder beispielsweise im Anna-Stift an und wurden nach und nach in die jeweiligen Hilfeeinrichtungen verteilt. Die Situation ist 2022 eine andere. Die Jugendhilfeeinrichtungen sind „alle bis unters Dach voll“, sagt André Amourette vom Fachbereich Jugend und Familie des Kreises Kleve. „Alle unsere Jugendhilfeträger hätten zwar die Bereitschaft, Kapazitäten wie vor ein paar Jahren erneut aufzubauen. Aber es findet sich kein Personal“, beschreibt Amourette. „Da schlägt der Fachkräftemangel stark zu.“
Und weil das im ganzen Land ein Problem ist, gaben der LVR als Landesjugendamt und das Ministerium im März einen Erlass heraus, dass für „Brückenlösungen“ ausdrücklich vorübergehend keine hohen Standards bei der Unterbringung gelten. „Denn die logische Konsequenz wäre ansonsten, dass unter Umständen sogar Obdachlosigkeit droht“, erklärt Andrea Schwan, zuständige Dezernentin der Kreis Klever Ausländerbehörde. „Wir können nun amtseigene alternative Lösungen überlegen.“
„Wir brauchen da doch jetzt mal ne vernünftige Lösung, damit wir gut schlafen können“
So bat das Kreisjugendamt alle 16 Städte und Gemeinden, auch die mit eigenem Jugendamt, um Kooperation. „Wir haben gesagt: Wir sitzen doch alle im gleichen Boot und wir brauchen da doch jetzt mal ne vernünftige Lösung, damit wir gut schlafen können“, sagt Amourette. „Wir wollen wissen, dass jeder Jugendliche auf jeden Fall ein Bett findet.“ Im Gespräch mit Han Groot Obbink vom Wunderland Kalkar suchte man die Lösung für „eine noch nicht bekannte Anzahl von Jugendlichen“. Genauso wie bei erwachsenen Flüchtlingen gilt es auch bei Minderjährigen, eine bestimmte Quote bestmöglich zu erfüllen – für den Kreis Kleve hochgerechnet 50 Jugendliche für alle Jugendämter zusammen.
Im Wunderland Kalkar leben nun erst mal 14 Jugendliche aus Afghanistan und Syrien im Alter von 15 bis 17 Jahren. Die meisten kamen im November an. Allein, ohne Eltern, manchmal in „Fluchtgemeinschaften“, oft mit Schleusern. „Viele haben auf der Flucht ihre Sachen zurückgelassen und kommen nur mit der Hose und dem Pulli an“, schildert Amourette. Manche brauchten ärztliche Behandlung, mache sind traumatisiert. Jetzt geht es um Grundversorgung, ihnen Kleidung zu beschaffen und um sozialpädagogische Begleitung.
Ukrainische Jugendliche kamen mit den Müttern, diese afghanischen und syrischen allein
Zum Vergleich: Ukrainische Kinder und Jugendliche reisen fast immer mit ihren Müttern an, während die Väter im Krieg zu Hause bleiben – die Kinder bekommen von hier aus dann online Unterricht in der Ukraine. Im Gegensatz dazu erhalten die jungen unbegleiteten Afghanen und Syrer bisher keine schulische Bildung. „Wir haben ihnen erstmals eine Tagesstruktur gegeben, wollen sie pädagogisch stabilisieren. Dann werden wir Schritt für Schritt andere Themen angehen“, so Andrea Schwan. Für viele afghanische und syrische Jugendliche geht es um Alphabetisierung und individuelle Sprachförderung. Von Anfang an übernimmt das BBZ Sprachkurse.
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Für Januar oder Februar ist angedacht, die Minderjährigen peu a peu in Ergänzungsklassen an den weiterführenden Schulen einzugliedern, sagt Amourette. „Nicht nur an die Realschule in Kalkar, weil sie jetzt gerade im Wunderland Kalkar leben, sondern sie werden auch an die Berufskollegs und an Gymnasien gebracht.“ Jede Schule hat mittlerweile sowieso sogenannte Brückenklassen mit möglichst individuellen Ergänzungsangeboten für jeden Geflüchteten.
Zum Wunderland Kalkar fährt allerdings keine einzige Buslinie
Die Koordination läuft über das Schulamt des Kreises Kleve, das auch noch einen Plan für den Schülertransport erarbeiten muss. Theoretisch können sich die Jugendlichen frei bewegen. Aber das Wunderland Kalkar ist an keine einzige Buslinie angeschlossen. So bieten Berufsbildungszentrum BBZ und Anna-Stift immer wieder mal Ausflüge an. Fußball und Hockeyschläger gibt es am Familienpark Wunderland. Sehr froh zeigt sich das Kreisjugendamt über Betreuungsangebote durch das SOS Kinderdorf, das Deutsche Rote Kreuz und überwiegend das BBZ. Doch selbst für die betreute Freizeitgestaltung fehlen Fachkräfte.
Die Pläne der Allein-Geflüchteten sind eher langfristig
Bei den ukrainischen Kindern geht man davon aus, dass sie wahrscheinlich zurück in ihre Heimat wollen, weiß Amourette. Die Pläne der Allein-Geflüchteten im Wunderland sind eher langfristig. So geht es um ihre Asylfähigkeit, ihre Duldung. Manche Jugendliche haben Pässe, andere mussten sie ihren Schleusern überlassen, erklärt die Dezernentin. „Auch da ist die Welt vielfach bunt.“ Für Minderjährige muss das Jugendamt den Prozess um den aufenthaltsrechtlichen Status mit begleiten und steuern, gemeinsam mit dem Meldeamt in Kalkar. Das bedeute aber nicht, dass sie auf Dauer nur Kalkar zugewiesen würden, wenn sie nach dem 18. Geburtstag aus der Verantwortung des Jugendamtes herausfallen, sondern jeder Kommune anteilig, betont Andrea Schwan.
Kalkar hatte bis vor Kurzem bei erwachsenen Flüchtlingen 100 Prozent Quote erfüllt, mittlerweile sank das auf 87,8 Prozent, sagt Bürgermeisterin Britta Schulz der NRZ. Somit könnte Kalkar weitere 27 Personen aufnehmen.