Amsterdam/Culemborg. In den Niederlanden wird bald gewählt: Der Kolumnist Bert Wagendorp hofft auf Veränderungen - ein ausführliches Interview zur Lage einer Nation.
Am 17. März wird in den Niederlanden gewählt. Ministerpräsident Mark Rutte möchte zum vierten Mal ein Kabinett formen, aber in seinem Land haben sich wichtige Veränderungen vollzogen. Nach einem jahrelangen, neo-liberalen Regierungskurs treten immer stärker die Schwächen zu Tage. Die NRZ sprach mit Bert Wagendorp über den Wesenskern dieser anstehenden Wahl. Der Kolumnist der niederländischen Tageszeitung „de Volkskrant“ kommentiert seit vielen Jahren das politische Geschehen in Den Haag.
Wieder Parlamentswahlen. Haben die Niederländer überhaupt Interesse daran?
Bert Wagendorp: Ja natürlich. Vor allem aufgrund der ganzen Diskussion, ob diese Regierungskoalition aus VVD, CDA, D66 und ChristenUnie überhaupt weiterarbeiten sollte.
Welche Themen sind denn diesmal wichtig?
Wagendorp: Ich denke, dass die Corona-Krise einen großen Einfluss auf diese Wahl nehmen wird. Sie hat die Einstellung der Menschen zu vielen Themen verändert. Diesmal geht es sehr stark um das Vertrauen in den Staat und in die Verwaltung. Spätestens seit den Regierungsjahren von Ruud Lubbers, und ganz sicher seit der Amtszeit von Wim Kok in den 90er Jahren, hat sich in unserer Gesellschaft das neo-liberale Denken durchgesetzt: Der Staat beschützt vor allem das Individuum und der Staat erwartet auch vom Bürger eine liberale Einstellung: Hilf dir selbst!
Und das rächt sich jetzt? Jeder ruft gerade nach einem starken Staat?
Wagendorp: Ein Teil unserer Probleme lässt sich mit dieser Entwicklung erklären. Nehmen wir die Zahl der Intensivbetten: Sie wurde in den vergangenen Jahren halbiert, weil man ausschließlich an Effizienz im Krankenhauswesen dachte. Es ist nicht wirtschaftlich, 1000 Intensivbetten vorzuhalten und diese nicht zu nutzen. Wir haben noch 1700 Intensivbetten im Land, die zwar für den Normalbetrieb ausreichend sind, aber es dürfen keine unvorhergesehenen Dinge geschehen. Jetzt sehen wir die Folgen: Wir müssen unsere Corona-Patienten nach Deutschland bringen.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Stellung des Staates in der Gesellschaft eine nicht mehr so langweilige, akademische Diskussion.
Wagendorp (lacht): Nein, das ist eine fundamentale Frage, die sich hinter allen Debatten dieses Wahlkampfes stellt. Was erwarten wir vom Staat? Sowohl Corona als auch die Zulagenaffäre bei der Kinderbetreuung haben gezeigt, dass der Staat kein reiner Dienstleistungsbetrieb ist, sondern eine Stellung in der Gesellschaft einnimmt.
Bei all den Problemen, die es in den Niederlanden aktuell gibt – die Coronakrise wird mäßig gemanagt, das Gesundheitssystem zeigt Schwächen, der Wohnungsmarkt ist völlig außer Rand und Band und die Ungleichheit hat stark zugenommen: Warum kommt Mark Rutte noch so gut an? Lacht er einfach alles weg?
Wagendorp: Es scheint so. Jeder regt sich über die knappen Krankenhaus-Kapazitäten auf, aber niemand fragt: Hey Rutte, wer hat die ganzen Intensivbetten wegrationalisiert? Das ist die Basis unserer ganzen Corona-Politik: Wir wollen nicht, dass die Krankenhäuser an ihre Grenzen stoßen. Aber warum stoßen sie so schnell an ihre Grenzen? Weil wir in unserem steinreichen Land so wenig Betten vorhalten. Das ist doch ein Skandal.
In den vergangenen zehn Jahren haben wir unter Mark Rutte einen Ausverkauf des Staates erlebt: Die Jugendhilfe wurde zum Beispiel neu organisiert, mit katastrophalen Folgen. Wir haben Probleme mit der Qualität im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, im Kulturbereich. Dies sind alles Folgen von Einsparungen eines sich zurückziehenden Staates.
Und was hat das alles gebracht? Vor kurzem haben wir noch eine halbe Milliarde im Bereich Bildung eingespart und jetzt? Jetzt werden auf einmal 8,5 Milliarden Euro für Schulen locker gemacht, um die Corona-Folgen aufzufangen. Auf einmal gibt es Geld im Überfluss. Und da fragen sich viele: Warum mussten wir über Jahre hinweg so stark sparen? Geld ist scheinbar unbegrenzt vorhanden.
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Wenn man sich die Wahlumfragen anschaut, dann profitieren die linken Parteien nicht von dieser Entwicklung. Warum nicht?
Wagendorp: Die linken Parteien schaffen es nicht, sich zusammenzuschließen. Rutte wird von den Wählern nicht abgestraft. Im Gegenteil: Er ist immer erfolgreicher geworden. Meine Erklärung: Er profitiert von der Corona-Krise und profiliert sich als guter Krisenmanager: Er ist verbindlich im Ton und macht im Fernsehen eine gute Figur. Erst jetzt, kurz vor der Wahl, gibt es die ersten Irritationen, weil der Lockdown so lange dauert. Rutte lässt sich auf Lockerungen ein. Er sieht, dass die strengen Maßnahmen nicht mehr lange durchzuhalten sind. Menschen gehen auf die Straße, wir erleben Auseinandersetzungen und Gewalt. Aber all das richtet sich nicht gegen Rutte. Er fällt nur etwas zurück, von 42 auf 38 Sitze in den Umfragen.
Aber all die gesellschaftlichen Gruppen, bei denen er viele Jahre lang gespart hat, die müssen doch sauer sein.
Wagendorp: Eigentlich ja. Jeder ärgert sich über das zusammengesparte Gesundheitswesen. Es gibt zu wenig Ärzte, zu wenig Pflegekräfte, es wird zu wenig Gehalt gezahlt. Man sollte meinen: Jetzt ist die Zeit gekommen, um abzurechnen. Aber das geschieht nicht. Und das hat auch mit der Ohnmacht der linken Parteien zu tun. Dabei ist das Spielfeld für die linken Parteien bereitet.
Aber erkennen diese Parteien das auch? Jesse Klaver, Fraktionsvorsitzender der Grünen, hat in de Volkskrant gesagt: „Dies sind Klimawahlen“. Aber jeder kann sehen: Dies sind Corona-Wahlen.
Wagendorp: Ja. Aber Klaver sagt auch: Was wir jetzt mit der Corona-Krise erleben, sind Peanuts im Vergleich zur heraufziehenden Klimakrise. Eigentlich ist seine Analyse richtig, aber zurzeit genießt die Klimakrise nicht die höchste Priorität für die Wähler. Die denken: Lasst uns erst einmal die Läden wieder öffnen, bevor wir uns über Windräder Gedanken machen.
Der Staat muss seinen Bürgern einige Dinge zumuten. Ich bin gerade mit Tempo 100 über die Autobahn gefahren. Das gefällt nicht allen. Die ganze Stickstoffkrise des vergangenen Jahres zeigt doch: Es geht in der niederländischen Politik oft um verwaltungstechnische Details, die große Auswirkungen haben. Ich kann mir vorstellen, dass das viele Bürger nicht verstehen: Warum darf ich nur noch Tempo 100 fahren, weil ein Stickstoffwert überschritten wird?
Wagendorp: Aber dies muss man den Menschen erklären. Vielleicht ist Rutte in diesem Punkt einfach besser. Er sagt zum Thema Stickstoff: „Joh, ich halte das auch alles für überflüssig, ich fahre auch lieber 140. Aber, das Gericht hat so entschieden. Wir können es nicht ändern.“ Rutte ist sehr pragmatisch und opportunistisch: Er vollzieht einen Linksschwenk. Jetzt sagt er, dass die Zeit des neo-liberalen Denkens vorbei ist. Dass man wieder einen starken Staat wolle, der für die Menschen da ist. Auch die Christdemokraten vollziehen so eine Linkswende. Im Prinzip sind die Niederlande auch eine rechts-konservative Nation. Wer hat uns seit dem Zweiten Weltkrieg regiert? Zu 80 Prozent waren dies rechts-konservative Regierungen.
Warum haben die Niederlande dann so ein links-liberales Image im Ausland?
Bert Wagendorp: Bis zum Kabinett Den Uyl im Jahr 1973, das sozialistischste Kabinett überhaupt, gab es acht Regierungen mit konfessionellen Parteien. Nach Den Uyl gab es nur konfessionell-liberale Führungen mit einer Ausnahme: Die Amtsjahre von Wim Kok (1994 bis 2002). Und das war kein links-liberales Kabinett. Kok machte eine neo-liberale Politik. Die meisten Privatisierungen - etwa die der niederländischen Bahn oder der Telefonie - wurden in dieser Zeit vorgenommen.
Aber wenn man das Land von außen betrachtet, ist es doch sehr liberal: Hier darf man kiffen bis man umfällt, es gibt eine aktive Sterbehilfe...
Wagendorp: Ja, aber auf diesen Gebieten hat man uns schon lange eingeholt: In der Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten darf man Haschisch rauchen. Wir sind viel konservativer geworden, gerade in der Drogenpolitik. Und auch beim Thema Sterbehilfe gibt es mittlerweile viele Länder, die mit einer ähnlichen Gesetzgebung hantieren.
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Und trotzdem: Wenn ich eine Bürgerversammlung zum Thema Windkraft in Groesbeek besuche, dann geht es sehr basis-demokratisch zu. Jeder darf etwas zum Thema sagen und ich habe den Eindruck, diese Beschwerden werden auch ernst genommen und umgesetzt. In Deutschland wird da gerne von oben diktiert. Und das ist doch ein Wesenskern der niederländischen Gesellschaft?
Wagendorp: Wir sind in der Tat eine Gesellschaft, die viel und gerne diskutiert. Das ist ein Teil unserer Kultur. Meiner Meinung nach hat das auch mit unserer Raumordnung zu tun. Wenn ich nach Deutschland fahre, dann sehe ich da die Windräder und denke mir: Tja, wer sollte etwas dagegen haben? Hier gibt es so viel Platz. In den Niederlanden ist das anders: Wir leben in einem kleinen, dicht bevölkerten Staat. Wenn man etwas umsetzen möchte, muss man zwangsläufig mit vielen Gruppen diskutieren. Und es geht fast immer um das Thema Raumordnung.
Die Stellung des Staates ist bei diesen Wahlen das wichtigste Thema?
Wagendorp: Ja, ich denke schon. Das wird vielleicht nicht so artikuliert, aber Corona hat uns den Spiegel vorgehalten und gezeigt, dass der Staat wichtig ist. In der Vergangenheit lief alles so perfekt. Die Wirtschaft lief rund, worüber sollte man sich Sorgen machen? Warum brauchen wir den Staat überhaupt? Sorgt nur für Ärger. Jetzt haben viele Menschen gesehen, dass es sehr wohl wichtig ist, dass der Staat für ein gutes Zusammenleben Sorge trägt.
Hat der Staat versagt in den vergangenen Jahren?
Wagendorp: In meinen Augen schon, ja.
Der Immobilienmarkt ist auch wichtiges Thema. Hat hier der Staat ebenfalls versagt?
Wagendorp: Auch hier: Es gibt enorme Missstände. Es gibt viel zu wenig Wohnungen. Meine Eltern mussten in den 50er Jahren, in den Zeiten der Wohnungsnot, bei ihren Eltern wohnen. 70 Jahre später haben wir dieses Problem immer noch nicht gelöst. Junge Menschen wissen nicht, wie sie eine Immobilie finanzieren sollen. Breite Bevölkerungsschichten können nicht mehr in den Großstädten wohnen, weil es - zum Beispiel in Amsterdam - viel zu teuer ist.
Jetzt gibt es einen Plan für eine Millionen neue Wohnungen, die innerhalb von zehn Jahren gebaut werden sollen. Aber warten wir mal ab. Dieses Problem ist nicht über uns hereingebrochen wie ein Gottesurteil. Es ist das Ergebnis von Politikversagen. Das kann man allerdings nicht nur Rutte vorwerfen.
Warum verbessert sich die Situation nicht?
Wagendorp: Wir hatten einst eine gute Infrastruktur: Es gab genossenschaftliche Wohnungsgesellschaften, die günstige und gute Wohnungen vorhielten. Diese wurden privatisiert, der Wohnungsbestand wurde verkauft und dann begann das Elend. Der freie Markt sorgte dafür, dass die Preise explodierten. Meine Generation profitiert davon, aber jüngeren Menschen haben ein Problem. Hier gibt es Immobilien, da zahlt man 6000 Euro je Quadratmeter. 250.000 Euro für 42 Quadrat. Wer soll das bezahlen?
Wenn wir uns heute anschauen, wer vom Wirtschaftswachstum profitiert hat, dann müssen wir feststellen, dass die Bürger nicht besser dastehen. Gewonnen haben Unternehmen und das Kapital. Es klingt fast schon marxistisch. Aber diese Entwicklung vollzieht sich in allen westlichen Ländern seit den 80er Jahren. In den Niederlanden seit Ruud Lubbers, Mitte der 80er Jahre. In den vergangenen 40 Jahren hat sich das Bruttosozialprodukt verdoppelt. Und diese Wertschöpfung ist nicht bei Angestellten und Arbeitern angekommen.
Aber letztlich wird nicht anders gewählt. Die rechts-liberale VVD wird vermutlich wieder die größte Partei in den Niederlanden.
Wagendorp: Rutte hängt sein Fähnchen in den Wind. Vor ein paar Jahren sagte er: Dies geht so nicht. Unternehmen müssen höhere Löhne bezahlen. Und scheinbar nehmen die Wähler ihm dies ab. Ich glaube nicht mehr daran. Rutte wird dieses System nicht verändern. Seine Loyalitäten liegen woanders, nämlich bei den Menschen, die von dieser Entwicklung profitieren.
Was läuft bei den Sozialdemokraten falsch?
Wagendorp: Die PvdA hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Sie haben die Politik des Neo-Liberalismus mitgetragen und das ist für viele unverzeihlich.
Eine Anekdote dazu: Kürzlich habe ich mit Bram Peper gesprochen. Er war mal Innenminister und Bürgermeister von Rotterdam, ein Sozialdemokrat. Er hatte eine Beziehung mit Neelie Kroes, die ehemalige EU-Kommissarin, eine echte liberale Persönlichkeit der VVD. Bram erzählte mir, dass er einst eine Rede für den Ministerpräsidenten Wim Kok schreiben musste, in der er den Sozialdemokraten erklären sollte, dass die PvdA von ihren sozialdemokratischen Wurzeln Abstand nehmen. Das war in der Zeit von Tony Blair, Dritter Weg etc.
Er erzählte mir bei einem Gläschen Wein weiter, dass Neelie die Rede gegengelesen und gesagte hatte: Bram, das musst du anders formulieren: Die PvdA muss ihre ideologische Scheuklappen ablegen. Und so weiter.
Am Ende stand da ein Ministerpräsident Wim Kok vor seinen Parteianhängern und hielt eine wichtige Rede, die Passagen von Neelie Kroes enthielt. Das wusste er nicht, weil Bram es nicht an die große Glocke gehängt hat. Aber diese Anekdote finde ich sehr vielsagend: Die PvdA hat ihre Klientel, die Arbeiter im Stich gelassen. Die PvdA ist eine akademische Partei geworden, die sehr den Grünen ähnelt. Eigentlich gibt es keine Unterschiede.
Liegt es auch an den Personen? Lilianne Ploumen und Lodewijk Asscher sind nicht sehr charismatisch.
Wagendorp: Lodewijk Asscher könnte genauso gut Fraktionsvorsitzender der rechtsliberalen VVD sein. Er ist Akademiker, kommt aus den typischen Milieus Amsterdams - er kennt die sozialdemokratischen Wurzeln gar nicht. Die enormen Wahlverluste von 38 auf 9 Parlamentssitze, die kann man ihm ruhig zuschreiben.
Die PvdA hat vier Jahre lang mit der VVD regiert und kaum ihre Positionen durchgedrückt. Die niederländischen Sozialdemokraten betrachteten am Ende den Staat wie eine GmbH.
Wie kommen die Sozialdemokraten aus ihrem Tief heraus?
Wagendorp: Bei diesen Wahlen sicherlich nicht. Vielleicht werden sie vier Sitze hinzu gewinnen. Das wird nicht viel an ihrer Situation ändern. Dann werden sie wieder vor der Frage stehen: Wollen sie mit der VVD regieren?
Daher bin ich auch ein Befürworter einer linken Listenverbindung. Es gab im vergangenen Jahr eine Untersuchung: Was geschieht, wenn PvdA und GroenLinks zu einer progressiven Volkspartei fusionieren? Aus der Studie ließ sich erkennen: 1 + 1 macht 3. Getrennt kommen sie auf 30 Parlamentssitze, gemeinsam schaffen sie 40 Sitze. Wähler votieren auch für die Macht. Warum sollen sie für eine Partei stimmen, die es nie in die Regierung schaffen wird? Die PvdA ist jetzt einfach zu klein, um für Wähler interessant zu sein. Wo ist die Macht im linken Lager? Es gibt sie nicht.
Aber Du wählst wieder die Loser?
Wagendorp (lacht): Ja, ich fürchte schon.
Wie verhält es sich diesmal mit den extremistischen Parteien? Geert Wilders und Thierry Baudet?
Wagendorp: Wilders und Baudet erreichen maximal 25 Sitze. Auch nicht mehr. Wilders ist bei wirtschaftlichen Themen ziemlich sozialistisch eingestellt. Nur beim Thema Migration, Ausländer und in der Anti-Islam-Rhetorik nimmt er extreme Standpunkte ein. Die eigentlich radikale Person ist Baudet. Man weiß eigentlich gar nicht so recht, wofür er steht. Manchmal denke ich, er ist ein plumper Faschist. Und andererseits hat er auch Ideen, die man überdenken kann.
Zuletzt hat er eins zu eins die Argumente von Donald Trump übernommen. Wortwörtlich. Er sagte, dass am Wahltag ein starke Volksarmee auf den Straßen erscheinen muss! Da hört man doch Donald Trump deutlich heraus.
Wie verbreitet sind die populistischen Ideen in der niederländischen Gesellschaft?
Wagendorp: Ich befürchte, dass sie sehr verbreitet sind. Wir sehen das bei den Krawallen zur Coronapolitik. Hier drückt sich auch eine Form von Rassismus aus. Jetzt heißt es: Die Schaufenster der Geschäfte wurden ausschließlich von Marokkanern eingeschlagen. Das stimmt einfach nicht.
Oder die Wohnungsmarktsituation: Warum gibt es zu wenig Wohnungen? Vielleicht sagen dies nicht viele, aber gedacht wird trotzdem, dass die Ausländer Schuld sind: Sie nehmen uns die Wohnungen weg.
Das kommt sicherlich alles vor, aber das ist nicht die Regel. Das eigentliche Problem ist die liberale Wohnungsmarktpolitik der vergangenen Jahre.
Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs. Der Klimawandel zwingt uns alle zu Veränderungen in der Lebensführung. Da wird es sehr persönlich. Akzeptieren die Niederländer das?
Wagendorp: Nun ja, wenn man es den Menschen vernünftig erklärt, schon. Wir müssen zum Beispiel weg vom Erdgas. In der Provinz Groningen brechen die Häuser wortwörtlich in sich zusammen. Wir brauchen dringend die Erneuerbaren Energien. Aber das wird uns alle Geld kosten. Und zwar ordentlich. Man braucht Wärmepumpen und vielleicht auch Photovoltaik auf dem Dach. Alles prima. Aber viele Menschen können sich das nicht leisten. Geld zählt mehr als Ideologie.
Die Veränderungen wirken sich auch aus auf den Verkehr oder die Landwirtschaft. Die Bauern sind nach wie vor sehr erzürnt über die strengen Stickstoff-Regelungen. Das spaltet eine Gesellschaft.
Wagendorp: Das sind sehr wesentliche Veränderungen, die sich da vollziehen. Nur noch 50 Prozent unserer Fläche ist landwirtschaftliche Fläche. Und diese Flächen werden neu bestimmt: Vom Kartoffelanbau nach Häusern, quasi. Das wird sicherlich noch einige Spannungen hervorrufen.
In den Niederlanden hat vieles mit fehlenden Flächen zu tun. Man kann hier nicht einfach eine Autobahn bauen, dann überschreitet man sofort schon wieder irgendwelche Grenzwerte für Stickstoff. Der Aktionsradius ist so klein geworden, selbst ein Wohnquartier kann gestoppt werden, weil die Grenzwerte überschritten werden.
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Spielt Europa noch eine Rolle im Wahlkampf?
Wagendorp: 80 Prozent der Niederländer sind für die Europäische Union. Manchmal entsteht durch das Geschrei von Wilders und Baudet der Eindruck, dass dies nicht so ist. Bei den Europawahlen gewannen die Sozialdemokraten viele Stimmen, weil Frans Timmermans die Politik so gut erklärte. Europa ist für uns wichtig, die Basis für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Und ja, wir wissen, dass wir eine gemeinsame Verteidigungspolitik benötigen.
Einen Nexit, eine Austrittsdebatte, wird es nicht geben?
Wagendorp: Nein, wir haben so viele Vorteile durch Europa. Wir verdienen unser Geld im europäischen Binnenmarkt. Das versteht auch jeder.
Rutte wird wieder Ministerpräsident?
Wagendorp: Ja, ich denke schon. Ich bin nicht mehr so sicher wie vor zwei Monaten, weil die Christdemokraten Stimmen hinzugewinnen werden. Aber Spitzenkandidat Wopke Hoekstra wird Rutte nicht einholen.
Bei Jesse Klaver von den Grünen ist die Luft raus?
Wagendorp: Die Grünen haben ihren Höhepunkt überschritten. Ich merke, dass Menschen, die zuvor bedenkenlos Groen/Links gewählt haben, jetzt an den Führungsqualitäten von Jesse Klaver zweifeln.
>>Zur Person
Bert Wagendorp (64) ist Kolumnist für die niederländische Tageszeitung „de Volkskrant“. Drei Mal wöchentlich beschäftigt er sich mit dem aktuellen gesellschaftlichen und politischem Geschehen in seinem Land.
Im Sommer möchte der Journalist wieder mehr ins Land ziehen und als Reporter arbeiten. Seine Kolumne möchte er nach 15 Jahren beenden.