Essen. SPD trotz Verlusten wieder Zweiter, herbe Verluste für Grüne, FDP zufrieden, lange Gesichter bei Linken, Bündnis Sahra Wagenknecht auf Wolke 7.
Wer Wahlergebnisse nur an Mandaten misst, für den bot diese Europawahl in Essen sonntägliche Langeweile pur. Denn dass es aus dieser Stadt fortan nur einen Europa-Abgeordneten gibt, Jens Geier (62) von der SPD nämlich, war schließlich schon lange klar: Die Sozialdemokraten hatten Geier auf ihrer Liste mit Platz 2 bestens postiert, und sein Noch-Kollege im EU-Parlament, Guido Reil von der AfD, trat gar nicht erst an. Spannend wurde es dennoch – für all jene, die über Europa hinaus schauten.
Zum letzten Mal vor dem Wahljahr 2025 wurde der Bevölkerung der politische Puls gefühlt
Denn an diesem Sonntag wurde den 409.000 Essener Wahlberechtigten zum letzten Mal vor der OB-, Kommunal- und Bundestagswahl 2025 der politische Puls gefühlt. Und die Ausschläge sind bemerkenswert:
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Der Dreikampf, den sich CDU, Grüne und SPD zur Europawahl vor fünf Jahren noch geliefert haben, er ist wieder passé: Die Christdemokraten konnten sich am Sonntag mit knapp 27 Prozent der Stimmen deutlich als stärkste politische Kraft der Stadt von der Konkurrenz absetzen. Und das „in einem schwierigen Umfeld“, wie CDU-Chef Matthias Hauer befand: Stimmen „an den politischen Rand“ hätten vor allem die „Ampel“-Parteien verloren.
Eine Deutung, die auch Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen sofort aufgriff: „In Berlin wird es so nicht weiter gehen können“, meinte Kufen, „die Prioritäten müssen verschoben werden“ – hin auch zu einer „anderen Wirtschafts- und Migrationspolitik“. Eine Verknüpfung, die wiederum dem Landtagsabgeordneten und örtlichen SPD-Chef Frank Müller so gar nicht behagte: „Die CDU muss sich fragen, ob es klug ist, die Europawahl zur Abstimmung über die Bundespolitik umzuwidmen.“
„Eine schmerzvolle Niederlage“, seufzt der Europa-Abgeordnete Jens Geier mit Blick auf die SPD
Andererseits müssen die Genossen sich fragen, warum sie ihr schlechtes Ergebnis von 2019 noch einmal nach unten korrigieren mussten: Nicht einmal 20 Prozent der Stimmen konnte die SPD holen, „eine schmerzvolle Niederlage“, seufzte der Europa-Abgeordnete Jens Geier, daran habe „in einem sehr nachteiligen politischen Umfeld“ auch ein hochmotivierter Wahlkampf-Einsatz nichts mehr ändern können. Schwacher Trost für die Sozis: Sie holten sich stadtweit Platz 2 zurück.
Denn die Grünen erlebten am Sonntag einen regelrechten Absturz, verloren verglichen mit der Europawahl vor fünf Jahren über acht Prozentpunkte und landeten mit rund 14 Prozent der Stimmen nur noch knapp vor der AfD. Gönül Eğlence, Landtagsabgeordnete der Grünen, mochte denn auch nichts schönreden: „Das Ergebnis ist schon sehr enttäuschend für uns.“ Das Erstarken der AfD aber sei schier „unerträglich“.
In fünf Stadtteilen des Essener Nordens erweist sich die AfD als stärkste Partei
Denn die „Alternative für Deutschland“ landete im Reigen der Essener Parteien mit gut 13 Prozent zwar „nur“ auf dem vierten Platz, dies sei aber, fand der scheidende Europa-Abgeordnete Guido Reil „nach dem härtesten Gegenwind, den eine Partei kriegen konnte unfassbar“. Unfassbar gut, wie ein Blick auf die Stadtteil-Ergebnisse zeige: Das seien ja „Ergebnisse wie in Thüringen“. Und dies trotz einer „unglaublichen Welle von Verleumdung, Diffamierung und Hetze“, wie Reil beklagte – wobei er zugleich über den Spitzenkandidaten der AfD Maximilian Krah den Kopf schüttelte, der sich zur SS „völlig irre eingelassen und uns massiv geschadet hat“.
Tatsächlich erzielte die AfD in zwölf von 50 Essener Stadtteilen Ergebnisse von mehr als 20 Prozent, wurde in fünf Stadtteilen sogar stärkste Kraft vor SPD und CDU: in Vogelheim, Karnap, Bergeborbeck, Katernberg und Altenessen-Süd. Es würde nicht überraschen, wenn sich die Politikwissenschaft in nächster Zeit der Frage widmet, ob dieser Zulauf trotz oder vielleicht sogar gerade wegen der anhaltenden Debatte um die Radikalisierung der AfD und den geplanten Bundesparteitag Ende Juni in der Grugahalle erfolgte.
Essens FDP geht mit fast sechs Prozent und „neuer Zuversicht“ in die kommenden Monate
Der für viele beängstigende Erfolg der AfD überschattete letztlich Siegeslust und Niederlagenfrust all der anderen, kleineren Parteien an diesem Europawahl-Abend. Die FDP etwa freute sich über ein stadtweites „respektables Ergebnis“ von fast sechs Prozent und geht nach den Worten ihres Vorsitzenden Ralf Witzel „mit neuer Zuversicht“ in die kommenden Monate. Übrigens auch im Bund: Die Liberalen, so Witzel, seien schließlich „die einzige Partei der Ampel, die nicht abgestürzt ist“.
Einen tiefen Fall legten dagegen die Linken hin: Er sei schon „enttäuscht“, sagte deren Parteisprecher Wolfgang Freye – nicht zuletzt mit Blick auf den Erfolg, den das von den Linken abgespaltete Bündnis Sahra Wagenknecht aus dem Stand hingelegt hat: „Ich glaube nicht, dass das dort auf Dauer gut gehen kann“, legt Freye sich fest. Er hält nicht für ausgeschlossen, dass die Ex-Genossin am Ende zwei Parteien auf dem Gewissen habe: „die Linkspartei und ihre eigene“.
Bündnis Sahra Wagenknecht feiert „einen großartige Erfolg“ – und sieht noch Luft nach oben
Von derlei Unkenrufen mochte Ezgi Güyildar, einst Ratsfrau der Linken und derzeit einziges Mitgflied des Wagenknecht-Bündnisses in Essen, nichts wissen: Sie feierte in Duisburg mit anderen Mitstreitern „einen großartigen Erfolg für eine Partei, die es erst seit gut fünf Monaten gibt“. Das mache Mut für die Kommunalwahl im kommenden Jahr, für die an diesem Europa-Wahlabend alle mit einem Bein in den Startlöchern standen. Mal mehr, mal weniger zuversichtlich.