Düsseldorf. Die Zahl der Obdachlosen in Düsseldorf steigt. Rafael Walczynskie war einer von ihnen – und hat auf der Straße viel erlebt. Seine Geschichte.
Ruhig schiebt Rafael Walczynskie seinen schwarz-weiß-karierten Einkaufstrolley über die Türschwelle, eine schwarze Kappe verdeckt sein Gesicht. Erst als er sitzt, zieht der 52-Jährige seine Jacke aus und beginnt zu erzählen. Er spricht über sein Leben und über eine Wendung in den vergangenen Jahren, die er vorher nie für möglich gehalten hat. Knapp zwei Jahre hat der Düsseldorfer auf der Straße gelebt, viel Zeit in Notunterkünften und auf Parkbänken verbracht.
Mit seiner Geschichte ist er nicht alleine: Die Zahl der Obdachlosen in Düsseldorf ist in den vergangenen zwei Jahren um mehr als 80 Prozent gestiegen. Bei der Nachtzählung der Träger der Wohnungslosenhilfe in Düsseldorf wurden im vergangenen Oktober 437 obdachlose Menschen gezählt, 2021 waren es noch 239. Weitere 292 Menschen waren zum Zeitpunkt der Zählung in Krankenhäusern, Notschlafstellen oder in Polizeigewahrsam. Das heißt: 729 Menschen in Düsseldorf sind obdachlos. Ein Schicksal, das auch Rafael Walczynskie ereilt hat.
Obdachlos in Düsseldorf: Rafael Walczynskie lebte zwei Jahre auf der Straße
Seitdem er 15 Jahre alt ist, lebt Rafael Walczynskie in Deutschland, hat eine Ausbildung zum Koch in Düsseldorf gemacht und viel in den Restaurants der Landeshauptstadt gearbeitet. Sein ständiger Begleiter: Der Alkohol. „Ich habe gerne getrunken, jahrelang, eigentlich immer abends“, erinnert sich Walczynskie. 17 Jahre lang hat der gebürtige Pole in einer Sozialwohnung gelebt.
„Irgendwann wurde ich krank, habe starke Wassereinlagerungen gehabt und konnte nicht mehr arbeiten“, erinnert er sich. Seine Herzklappe machte Probleme, seinem letzten Job in einem Restaurant in der Altstadt konnte der heute 52-Jährige nicht mehr nachgehen.
Walczynskie: „Ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe“
„Eineinhalb Jahre habe ich dann Krankengeld bekommen“, erzählt er. Das anschließende Arbeitslosengeld habe er nie beantragt. „Ich habe in der Zwischenzeit Geld von meinem verstorbenen Vater geerbt, das habe ich nie mitgeteilt, weil ich Sorge hatte, dass ich dann meine Wohnung verliere.“ Auch seine Krankenkasse wusste von nichts.
Sechs Monate lang hat der 52-Jährige seine Miete nicht gezahlt, obwohl das Geld da gewesen wäre. „Ich wollte es dann nachholen und auf einen Schlag begleichen, da war es aber zu spät“, sagt er. „Ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe.“
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Er erinnert sich noch genau an diesen einen Tag, als er plötzlich vor seiner Wohnung stand und nicht mehr hereinkam. „Es war der 23. März 2022“. Seine Wohnung wurde zwangsgeräumt. Bis heute ist er fest davon überzeugt, dass er die Ankündigungsbriefe der Zwangsräumung nie erhalten habe.
Noch ein paar letzte Sachen konnte der Düsseldorfer mitnehmen, eben genau so viel, wie in seinen damaligen Einkaufstrolley und seine Tüten passte. Viele Fotos, Unterlagen und Klamotten blieben zurück. „Ich wusste ja auch gar nicht, wohin ich die Sachen tun soll“, erklärt er.
Obdachlos im Winter in Düsseldorf: „Das war schrecklich, das wünsche ich keinem“
Seitdem war Rafael Walczynskie wohnungslos, erst Hartz IV und später Bürgergeld brachten ihn über die Runden. Dabei waren nicht nur sein Rolltrolley und die Plastiktüten immer dabei, auch der Alkohol wurde immer mehr zum Problem. Zuerst verbrachte er die Nächte in einer Notunterkunft, drei Monate lang. Später fand er dann ein Zimmer, bis er diese Obdachlosenunterkunft wieder verlassen musste. „Ich hatte einen Streit mit einem anderen, der dort gelebt hat. Mir wurde gesagt, dass ich nicht mehr trinken soll. Leider habe ich mich nicht dran gehalten.“
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„Jeder hat mich gewarnt, dass ich nicht trinken soll. Ich bereue das sehr, aber ich habe oft meinen Frust mit dem Alkohol heruntergespült“, erzählt er. Andere Drogen hätte der 52-Jährige niemals genommen. Oft musste der Düsseldorfer auf der Straße übernachten. „Das war wirklich schrecklich, das wünsche ich keinem.“ „Ich habe häufig auf Parkbänken geschlafen, ich erinnere mich noch an eine Nacht, da habe ich auf einer Bank am Benrather Schloss übernachtet und es war so kalt, dass ich von meinen eingefrorenen Fingern aufgewacht bin“, erzählt Rafael Walczynskie.
Ex-Obdachloser Walczynskie wurde an Bushaltestelle zusammengeschlagen
Sein Handy habe in der Nacht nicht funktioniert, einen Krankenwagen konnte er nicht erreichen. „Ich habe viel geweint in dieser Nacht.“ „Das war schrecklich, das wünsche ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind“, so Walczynskie. Doch auch in den Unterkünften habe der heute 52-Jährige sich nicht immer wohlgefühlt: „Meine Sachen, meinen Trolley und die Tüten, habe ich immer mit ins Bad genommen, oder wenn ich kurz auf Klo bin, weil ich Angst hatte, dass ich sonst beklaut werde.“
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Während der 52-Jährige über seine Vergangenheit spricht, wirkt er offen. Mittlerweile hat er auch die Kappe von seinem Kopf gezogen und auf den Tisch gelegt. Erst jetzt im Licht zeigt sich eine Narbe auf seiner Nase. Wenn man ihn auf sie anspricht, wird er plötzlich ganz ruhig. Lange ist es noch nicht her, da saß der Ex-Obdachlose an einer Bushaltestelle und hatte zu viel getrunken.
„Was genau an dem Abend passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe irgendwas Blödes zu einem Mann gesagt“, versucht er sich zu erinnern. Als Reaktion auf seinen Kommentar hätte der Passant ihn so zusammengeschlagen, dass er wenig später mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag. „Ich wäre fast verblutet und kann froh sein, dass ich nicht gestorben bin“, weiß er heute.
Obdachlose in Düsseldorf: Mehr als 700 Menschen leben auf der Straße
Ergebnisse einer Nachtzählung im Oktober 2023 von unter anderem Diakonie, Caritas, Franfreunde und Axept, zeigen einen deutlichen Anstieg der Obdachlosenzahlen in Düsseldorf. Insgesamt 437 Menschen sind in der Nacht des 19. Oktober 2023 auf der Straße gezählt worden. 292 Menschen wurden außerdem in Krankenhäusern, Polizeigewahrsam oder Notschlafstellen gezählt. Das heißt: Mehr als 700 Menschen leben auf den Straßen in Düsseldorf.
Gezählt wurde in diesem Jahr am Bahnhof/Worringer Platz (200 Menschen), am Grand Central (65 Menschen), in der Altstadt (34 Menschen) und an Lierenfelder/-Ronsdorfer Straße (34 Menschen). Im Vergleich zu 2021, hat es bei den obdachlosen Frauen, die sich zum Zeitpunkt der Zählungen auf der Straße gelebt haben, einen Anstieg von 119,35 Prozent gegeben. 2021 wurden insgesamt 459 obdachlose Menschen gezählt (inklusive Krankenhaus, Polizei und Notschlafstellen).
Nach zwei Jahren auf der Straße: Walczynskie lebt nun in einer Wohnung
Wer dieser Mann war, der ihm das angetan hat, weiß Walczynskie nicht. Eine Anzeige gegen Unbekannt hätte bisher wenig gebracht. „Das Leben auf der Straße ist würdelos“, sagt der gebürtige Pole. „Viele vergessen das, aber wir sind ganz normale Menschen. Ich habe einen Fehler gemacht, aber so ein Leben hat niemand verdient.“
Zwei Jahre auf der Straße haben den Düsseldorfer geprägt, mittlerweile hat die Geschichte von Rafael Walczynskie eine gute Wendung genommen: Vor etwa einer Woche hat der 52-Jährige seine eigene Wohnung bezogen. „Jetzt habe ich meine Würde wieder“, sagt er stolz. „Ich wusste nicht einmal mehr, wie man Wohnung schreibt. Als ich eingezogen bin, war ich sprachlos“. Durch die Initiative „Housing First“ hat er eine kleine 1-Zimmer-Wohnung gefunden. „Und das ist für mich wie ein Paradies“, sagt er.
„Ich habe mich auf der Straße immer gefühlt wie ein Gesetzloser. Dort herrschen keine Gesetze mehr“, erinnert sich Walczynskie an diese zwei Jahre zurück. Für diese zweite Chance, die er im Leben bekommen hat, wird der 52-Jährige ewig dankbar sein. Und noch etwas: Seinem Herzen geht es mittlerweile wieder so gut, dass er arbeiten möchte. „Vielleicht in ein, zwei Monaten“, so der Düsseldorfer. „Ich nehme jeden Job, muss nicht wieder im Restaurant sein, man kann ja auch umschulen“, erzählt er zwinkernd.
Und Alkohol? Den rührt er nicht mehr an – seit nun etwa fünf Monaten ist er trocken. „Und das habe ich ganz alleine geschafft, darauf bin ich stolz“. „Ich habe viele Menschen gesehen, die an Drogen und Alkohol kaputtgegangen sind und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich mein Leben jetzt so leben darf und der Alkohol nichts mehr kaputt machen kann“, sagt Walczynskie, bevor er nach dem Ende des Gesprächs seine Kappe aufsetzt, die Jacke überwirft und sich wieder mit seinem Trolley auf den Weg macht – nach Hause, in seine eigene Wohnung.
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