Dinslaken. Am 10. November 1938 stürmen NSDAP und Dinslakener Bürger das jüdische Waisenhaus. Die Kinder konnten entkommen - in ein anderes Land.
Am späten Nachmittag des 20. Dezember 1938 steigen 42 Kinder des Israelitischen Waisenhauses Dinslaken in Köln in einen Schnellzug, der sie in die belgische Hauptstadt Brüssel bringen wird. Am Grenzbahnhof Herbesthal werden sie von belgischen Grenzbeamten erwartet, denen der Transport angekündigt worden ist. Den Kindern, die von Mitarbeitern des Belgischen Roten Kreuzes begleitet werden, wird von der Ortsgruppe Welkenraed des Roten Kreuzes ein herzlicher Empfang bereitet. Sie bekommen heiße Getränke und belegte Brötchen gereicht, während Grenzer die Papiere kontrollieren.
Der Zug erreicht sein Ankunftsziel Brüssel gegen 20 Uhr. Doch nicht jedes der Kinder, das dem Transport aus dem Waisenhaus Dinslaken mitgegeben wird, lebte auch dort. Manche kommen aus den Nachbarstädten, sie sind Halbwaisen, manche Väter befinden sich im Konzentrationslager oder die Familien der Kinder sind in großer finanzieller Not. Außer ihnen befinden sich noch weitere 39 jüdische Kindertransportkinder im Zug.
Etwa 1000 jüdische Kinder gelangten über die Grenze nach Belgien
Der Transport ist der zweite von insgesamt 17 in den Monaten November 1938 bis Juli 1939, mit denen etwa 1000 jüdische Kinder der nationalsozialistischen Verfolgung und Ausgrenzung in Deutschland entkommen. Unter dem Eindruck der Novemberpogrome 1938 hatte sich auch das Nachbarland Belgien entschlossen, jüdische Kinder aus Deutschland aufzunehmen. Zunächst verfügt der belgische Justizminister Pholien im November die zeitlich begrenzte Aufnahme von 250 Kindern. Weitere 750 Aufnahmen werden im Januar 1939 genehmigt. Die Aufnahme findet unter der Voraussetzung statt, dass die Organisation der Transporte und der Aufenthalt der Kinder von privater Seite finanziert werden.
Im Deutschen Reich ist die Kinderauswanderung der Reichsvereinigung der Juden zuständig, auf belgischer Seite sind es das Comité d‘assistance aus Enfants Juifs Réfugiés in Brüssel und das Komitee Voor het joodsche Kind van Duitsland in Antwerpen. Beide Komitees gründen sich aus bereits bestehenden jüdischen Hilfsorganisationen. Das Büro des Antwerpener Komitees befindet sich in der Langen Leemstraat 155, im Sitz der Centrale, der Dachorganisation aller jüdischen Hilfsorganisationen in Antwerpen.
Das Waisenhaus der Rothschilds als Zufluchtsort
In der Lange Leemstraat 313 ist außerdem das Antwerp Joods Weeshuis (Jüdisches Waisenhaus Antwerpen) untergebracht. Dort leitet seit Anfang 1938 der in Halberstadt geborene und in Dinslaken aufgewachsene Dr. Siegfried Rothschild die Einrichtung. Er ist der Sohn von Dr. Leopold Rothschild und dessen Ehefrau Zippora, die in Dinslaken gemeinsam das Jüdische Waisenhaus leiten. Mit Siegfried Rothschild leben seine Ehefrau Rosi als Kinderpflegerin und die gemeinsamen Töchter Miriam und Eva in der Langen Leemstraat 313.
Der Erzieher und promovierte Naturwissenschaftler Siegfried Rothschild und die Kinderpflegerin Rosi (Rosa) Kugelmann heiraten 1933 in Fulda. Beide arbeiten zu diesem Zeitpunkt im jüdischen Kinderheim AHAVA in Berlin. 1935 vertritt er seinen Vater im Dinslakener Waisenhaus. Im September 1936 wird hier die zweite Tochter des Ehepaares, Eva, geboren. Ende 1937 wird die Stelle des Direktors im Jüdischen Waisenhaus Antwerpen frei. Rothschild wird vom Vorstandsgremium vorgeschlagen und bekommt die Stelle: „Das war natürlich eine große Sache, dass einer legal aus Deutschland weggehen soll, weil damals sind doch die Juden geflüchtet über die Grenze und haben alles im Stich gelassen, aber dass einer ganz legal aus Deutschland ausreisen kann mit Erlaubnis, Einreiseerlaubnis in Belgien und Arbeitserlaubnis in Belgien, das war ein sehr seltener Fall“, berichtet Siegfried Rothschild in einem Interview im Archiv der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Verbindungen von Dinslaken nach Belgien
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Siegfried und Rosi Rothschild freunden sich in Antwerpen mit Sarah Orfinger an, die im Vorstand des Waisenhauses ist. Sie ist die Schwester von Max Gottschalk, einem hohen Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde Brüssel. Gottschalks Mutter Wilhelmine ist die Tochter des Gerbereibesitzers Mose Moses aus Dinslaken, dessen Gerberei sich in unmittelbarer Nähe des 1885 gegründeten Waisenhauses befindet. Vermutlich sind sich die Familien Gottschalk und Rothschild bereits hier begegnet.
Max Gottschalk arbeitet als Rechtsanwalt in Brüssel und Lüttich. Ab 1921 ist er beim International Labor Office, einer Einrichtung des Völkerbundes, tätig. 1933 wird er Vizepräsident der Jüdischen Gemeinde Brüssel und gründet in dieser Eigenschaft ein Hilfskomitee für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland. 1938 entwickelt sich daraus das Kinderhilfskomitee Comité d’Assistance aux Enfants Juif Réfugíes (CAEJR).
Die Familien Orfinger und Gottschalk sind von den Novemberpogromen 1938 in Deutschland auch persönlich betroffen: Rosalie Moses, eine Schwägerin von Wilhelmine Gottschalk, stirbt nur wenige Tage nach dem Pogrom in Dinslaken. Das Haus Moses war am Morgen des 10. November von NSDAP- und SA-Männern überfallen worden. Max Moses, der Sohn von Rosalie und Benjamin Moses, wurde mit anderen jüdischen Männern in das Dinslakener Amtsgerichtsgefängnis gebracht und später in das Konzentrationslager Dachau überstellt.
Zeugin der Zerstörung des Dinslakener Waisenhauses kam nach Belgien
Miriam Rothschild, die jüngste Schwester von Siegfried Rothschild, befindet sich am 10. November 1938 im Dinslakener Waisenhaus und muss mitansehen, wie ihr Zuhause zerstört wird. „Damals in Deutschland hat man so viel verwüstet, das ganze Haus zerstört, die Betten rausgeschmissen. Es war unvorstellbar! Das Geschirr zerschlagen, den Eisschrank kaputt gemacht, so wie ich gehört habe. Auf jeden Fall, nachdem wir das gehört haben, wir in Belgien haben alles getan, um die Kinder zu retten“, berichtet Siegfried Rothschild.
Miriam setzt sich sofort nach den schrecklichen Ereignissen in Dinslaken mit ihrem Bruder Siegfried in Antwerpen in Verbindung und begleitet den „Transport der Kinder aus dem Waisenhaus Dinslaken“ nach Brüssel. Für sie ist der Aufenthalt bei ihrem Bruder in Belgien nur von kurzer Dauer. Sie reist weiter zu ihren Eltern und den Geschwistern nach Palästina. Leopold und Zippora Rothschild befinden sich seit etwa Mitte November 1938 dort. Sie hatten vom Vorstand des Waisenhauses zum 25-jährigen Berufsjubiläum in Dinslaken eine Reise nach Palästina geschenkt bekommen. Sie werden nie mehr nach Deutschland zurückkehren.
Kinder kamen erst im Fabrikgebäude unter und dann in Privathäusern
Rosi Rothschild engagiert sich seit der Gründung im November 1938 bei Voor het joodsche Kind van Duitsland in Antwerpen. Der erste Kindertransport aus Deutschland trifft bereits am 24. November in Belgien ein. Die Kinder kommen zunächst in der Avenue Margrave 45 unter, einem Fabrikgebäude, das dem Antwerpener Komitee vom Mäzen Isidor Lipschutz zur Verfügung gestellt wird. Insgesamt übernimmt das Komitee im Zeitraum November 1938 bis Juni 1939 die Organisation von sieben Kindertransporten nach Antwerpen. Die jüdische Bevölkerung Antwerpens wird regelmäßig über die Not der jüdischen Kinder in Deutschland unterrichtet.
Das Waisenhaus in der Langen Leemstraat 313 hat keine Kapazitäten, um Kinder aus Deutschland aufzunehmen. Dort leben zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Jungen, es verfügt über 30 Plätze. Allerdings befindet sich ein leerstehendes Gebäude auf dem Grundstück, das später als Waisenhaus für Mädchen benutzt werden soll. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 kommen die Schwestern Regina und Franziska Garbownik aus dem Waisenhaus Dinslaken für einige Monate in der Lange Leemstraat 313 unter.
Die Kindertransportkinder werden meist in Privathaushalten, aber auch in Heimen untergebracht. Bereits seit Juli 1938 lebt die wie Rosi Rothschild aus Fulda stammende Ruth Feldheim im Jüdischen Waisenhaus Antwerpen. Siegfried Rothschild hat ihr dort eine Stelle als Köchin angeboten, eine Tätigkeit, die sie bereits im Dinslakener Waisenhaus ausgeübt hat. Später wird sie in Antwerpen den aus Wiesbaden stammenden Erzieher Jonas Tiefenbrunner kennenlernen und ihn 1940 heiraten. Gemeinsam führen sie ein religiös geführtes Waisenhaus in Heide, das im Laufe des Krieges nach Antwerpen und Brüssel umziehen muss. Einige Bewohner des Jüdischen Waisenhauses Dinslaken werden später im Heim Tiefenbrunner leben.
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen und der Besetzung Belgiens geraten die geretteten Kinder wieder in den Einflussbereich der Deutschen.