Dinslaken. Die Ausstellung „Gerettet - auf Zeit“ von Anne Prior und Jawne thematisiert die Flucht jüdischer Kinder während des Dritten Reiches nach Belgien.

„Geben Sie diese Kinder nicht auf.“ So lautete der Titel der Forschungsarbeit von Anne Prior. Ein Zitat aus einem Bittbrief des belgischen Komitees zur Unterstützung jüdischer Flüchtlingskinder. Erstmals hat Anne Prior darin die Flucht jüdischer Kinder während des Dritten Reiches nach Belgien aufgearbeitet. Das israelitische Waisenhaus in Dinslaken spielte eine wichtige Rolle beim Zustandekommen dieser Kindertransporte. Eine gemeinsame Ausstellung von Anne Prior und dem Lern- und Gedenkort Jawne in Köln zeigt nun erstmals das Schicksal dieser Kinder. Sie ist ab 2021 auch in Dinslaken zu sehen. Der Titel: „Gerettet - auf Zeit“. Von den 1000 Kindern, die in den Jahren 1938 und 1939 in 17 Transporten nach Belgien geschafft wurden, überleben etwa zwei Drittel.

„Liste 1“ hat jemand - vermutlich das belgische Innenministerium - auf das Papier geschrieben. Wohl wegen der Dringlichkeit. Diese erste Liste von Kindern, die für einen Transport nach Belgien infrage kommen enthält die Namen von 47 Kindern aus dem israelitischen Waisenhaus Dinslaken. Am 10. November 1938 hat sich ein wütender Mob an den Kindern, den schwächsten der Gesellschaft, vergriffen, das Waisenhaus an der Neustraße verwüstet und die Kinder durch die Straßen getrieben.

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Die Kinder fanden zuerst Zuflucht in einer Volksschule, dann in einer Gaststätte, wurden am 17. November nach Köln gebracht. 42 Kinder aus dem israelitischen Waisenhaus fahren am 20. Dezember 1938 mit dem ersten Kindertransport mit dem Zug nach Belgien, weitere Kinder kommen in die Niederlande. Nicht alle überleben.

Kurt Koronas Name steht auf dieser „Liste 1“. Eine Kopie ist in der Ausstellung zu sehen. Ein Foto zeigt ihn gemeinsam mit der Fußballmannschaft des Waisenhauses in Dinslaken. Ein ernster Blick. Mit neun Jahren hat ihn seine Mutter dem Waisenhaus anvertraut - nach dem Tod ihres Mannes konnte sie ihre drei Kinder nicht mehr ernähren. Das nächste Bild: in den Dünen von Middelkerke, Anfang 1939. Lachende Gesichter. Die Kinder und Betreuer, die mit dem Kindertransport vom 20. Dezember 1938 nach Belgien gekommen sind, sind dort vorläufig in der Villa Johanna untergekommen. Für Kurt nur eine vorläufige Rettung.

Kurt Korona - sein Name stand auf der „Liste 1“ Im August 1942 wird er in Auschwitz ermordet.
Kurt Korona - sein Name stand auf der „Liste 1“ Im August 1942 wird er in Auschwitz ermordet. © Privat

Nach mehreren Ortswechseln verlässt er 1942 mit 17 Jahren das Waisenhaus, arbeitet als Pelzarbeiter. Längst sind die Deutschen zu diesem Zeitpunkt in Belgien eingefallen. Im Juli 1942 erhält er von der deutschen Militärverwaltung einen sogenannten „Arbeitseinsatzbefehl“. Wer nicht Folge leistet, dem wird mit dem Konzentrationslager gedroht. Kurt Korona leistet Folge, meldet sich. Gemeinsam mit zwei weiteren Dinslakenern, Josef Axel-Thaler und Gertrud Babette Fränkel, wird er am 4. August 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ein Stolperstein erinnert heute an sein Schicksal: Er liegt an der Neustraße 43, dort, wo einst das israelitische Waisenhaus stand.

Dora und Berta Steuer - auch ihre Namen stehen auf der Liste 1. Die Geschwister können von Belgien über Frankreich, Spanien und Portugal mit dem Schiff in die USA fliehen. „Angel of child refugees brings 10 of them here from Europe“ titelt die New York Post bei der Ankunft des Schiffes im Oktober 1941. Ein Foto zeigt die Schwestern 2008 gemeinsam in New York. Von ihrer jüngeren Schwester Toni wurden die beiden 1938 getrennt. Doch auch Toni kommt 1942, als Fünfjährige, auf anderen Wegen nach New York, die Geschwister sind vereint. „Eine fast unglaubliche Rettungsgeschichte,“ so der Katalog zu Ausstellung, zu dem Anne Prior ebenfalls zahlreiche Texte beigetragen hat.

Inge Bernhards an ihrem ersten Schultag in Dinslaken.   
Inge Bernhards an ihrem ersten Schultag in Dinslaken.    © Familie Weiskirch/Bernhard, Israel

Inge und Heinz Bernhard erleben den 10. November 1938 noch daheim, bei ihren Eltern in Dinslaken. Ihre Eltern, Siegfried und Anna Bernhard, führen ein bekanntes Kaufhaus in der Dinslakener Innenstadt. Als ihr Vater an diesem Tag verhaftet wird, versteckt sich die zehnjährige Inge stundenlang im Keller des Geschäftshauses. Die Eltern werden in Auschwitz ermordet. Inge und Heinz werden 1939 als Kindertransportkinder Nr. 306 und Nr. 307 nach Belgien gebracht. Dort werden sie getrennt, sehen sich nach vier Jahren in der Schweiz wieder und emigrieren 1945 nach Palästina. Fotos zeigen die Beiden gemeinsam mit ihren Ehepartnern.

Ehepaar Rothschild spielte eine große Rolle

Für das Zustandekommen der Kindertransporte nach Antwerpen und Brüssel spielten Menschen aus Dinslaken eine große Rolle. Das Ehepaar Rosi und Dr. Siegfried Rothschild etwa. Rosi Rothschild war Vorstandsmitglied des Antwerpener Komitees „Voor Het Joodsche Kind van Duitschland“. Ihr Ehemann Siegfried war Sohn des letzten Dinslakener Waisenhausdirektors Dr. Leopold Rothschild und führte seit 1938 das Jüdische Waisenhaus in Antwerpen.

Leopolds 17-jährige Tochter Miriam hat die Kinder des ersten Transports - 16 weitere sollen folgen - nach Belgien begleitet. Max Gottschalk, Sohn der Dinslakener Familie Moses, gründete zudem 1933 ein Komitee für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, aus 1938 das Comité d’Assistance aux Enfants Juifs Réfugiés (CAEJR), das Komitee zur Unterstützung jüdischer Flüchtlingskinder, entsteht.

Von den 42 nach Belgien geflüchteten Kindern aus Dinslaken überleben laut Anne Prior 26. Elf werden nach Auschwitz und Majdanek deportiert, ein Jugendlicher kehrt aus Auschwitz zurück. Ein Junge wird in Frankreich getötet. Fünf Kinder kehren 1940 nach Deutschland zurück und werden deportiert und ermordet.

Bis Anfang Februar ist die Ausstellung in Köln zu sehen

Die Ausstellung ist beim Landschaftsverband Rheinland, Landeshaus, Nordfoyer, Kennedy-Ufer 2 in Köln-Deutz, noch bis zum 2. Februar 2020 zu sehen. Sie ist von Montag bis Freitag und Sonntag von 8 Uhr bis 18 Uhr geöffnet. 2021 soll sie auch nach Dinslaken kommen.

Anne Prior hat vor acht Jahren den Verein Stolpersteine für Dinslaken gegründet, hat mehrere Bücher zum Schicksal der Dinslakener Juden und wurde für ihr Engagement und ihr Forschungsarbeit vom Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.