Essen. Teil zwei der Pokal-Serie: Gegen St. Pauli liegt RWE 0:2 zurück, doch die Hafenstraße bleibt Hafenstraße. Szenen eines „mitreißenden Pokalabends“

Sie sind Legenden an der Hafenstraße. Für immer. 1993/94 setzte der damalige Zweitligist Rot-Weiss Essen zu einem Pokal-Lauf an, der die Mannschaft bis ins Finale führte. Im Endspiel verlor RWE gegen Werder Bremen, doch das Team hatte sich längst in die Herzen der Fans gespielt. In unserer Serie „93/94 – Wir fahren nach Berlin“ schauen wir auf jedes Spiel der Pokal-Saison zurück. In der dritten Runde wartete St. Pauli.

Prinzip Steigerung. So stellte sich der RWE-Fan das vor: Freilos in der Runde des DFB-Pokals, ein Oberligist in der zweiten Runde (3:2 beim 1. FC Bocholt gewonnen), nun ein Zweitligist in der dritten Runde: Der 1. FC St. Pauli kommt an diesem 10. September 1993 zur Hafenstraße. Und bei einem Sieg sollte sich dann in der nächsten Runde, es wäre das Achtelfinale, ein Bundesligist die Ehre geben.

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Zunächst einmal musste allerdings eine Leistungssteigerung her, um gegen St. Pauli etwas zu reißen. Gegen die Kiez-Kicker hatte es nämlich nur ein paar Wochen zuvor bereits das Zweitliga-Spiel an der Hafenstraße gegeben. Es ging 0:0 aus, die gewöhnlich schwungvolle RWE-Offensive war ausgebremst worden. Allerdings war es auch schwer, an bundesligagestählten Leuten wie Bernd Hollerbach, Holger Stanislawski oder Torwart Andreas Reinke vorbeizukommen.

Hier geht es zum ersten Teil unserer Serie: Das Wunder begann in Bocholt.

Stattdessen wurde es noch schlimmer, die Essener trafen wieder nichts, die von Sepp Eichkorn trainierten Gäste hingegen schon. Martin Driller schlug gleich zweimal zu – auch er war aus der Bundesliga bestens bekannt, hatte er doch zuvor beim BVB gespielt.

0:2 nach 55 Minuten, aber was soll’s. Es ist ein Flutlichtspiel an der Hafenstraße und noch lange nicht Schluss. Trainer Jürgen Röber, damals eh kein Freund des vorsichtigen Fußballs, trieb sie alle nach vorne: Abwehrchef Harry Kügler, der die heute vergessene und damals aufregende Position des „Liberos vor der Abwehr“ spielte, ebenso Verteidiger Roman Geschlecht. Und der stand in der 67. Minute genau richtig, um eine Flanke per Kopf zum 1:2-Anschlusstreffer zu verwandeln.

Rot-Weiss Essen: Bangoura und Geschlecht sind zur Stelle

Jetzt ließen sich die Rot-Weissen nicht mehr stoppen, nur vier Minuten später segelte die nächste gefährliche Hereingabe in den Hamburger Strafraum, diesmal beförderte sie Daouda Bangoura mit einem sehenswerten Flugkopfball zum 2:2 ins Netz, startete dann einen ausgedehnten Jubellauf, bis seine Teamkameraden ihn einholten und vor Freude unter sich begruben. Auch der junge WDR-Reporter Jürgen Bergener, der den Fernsehbericht kommentierte, ließ sich anstecken: „Begeisternde Szenen eines mitreißenden Pokalabends“ schwärmte er.

Wir lassen Rot-Weiss Essens legendären Pokal-Lauf wieder hochleben.
Wir lassen Rot-Weiss Essens legendären Pokal-Lauf wieder hochleben. © Grafik Justus Heinisch | Grafik Justus Heinisch

Sein Kollege vom ZDF, Rolf Töpperwien, hatte Bangouras Namen ein Jahr zuvor bekannt gemacht: In seiner Reportage vom 2:0-Pokalsieg der Essener über Schalke 04. „Bangoura, der Mann aus Guinea. Sehr auffällig, auch wenn es im Abschluss nicht immer klappte“, sagte der heute legendäre Reporter damals nach einer ausgelassenen Torchance des Stürmers.

Brennpunkte bei Rot-Weiss Essen:

Dazu muss man ergänzen: Bangoura Vater stammt aus Guinea, die Mutter aus Jugoslawien. Vor dem dortigen Bürgerkrieg flohen 1992 Bangoura und sein Teamkamerad Predrag Crnogaj nach Deutschland und wurden von RWE aufgenommen. Das zahlte sich schon im Pokal aus: Crnojaj schoss gegen Schalke das 1:0, Bangoura, bei dem es im Abschluss immer besser klappte, erzwang nun mit dem 2:2 gegen St. Pauli die Verlängerung.

Hier griffen die Rot-Weissen zur inzwischen bewährten Methode: Genaue Flanke und dann per Kopf ins Glück. Mit seinem zweiten Treffer in diesem Spiel krönte Roman Geschlecht in der 98. Minute den „mitreißenden Pokalabend“. 3:2-Sieg nach 0:2-Rückstand.

1:5! RWE verliert klar gegen Wagners Hoffenheim.

Zur Belohnung wurde dann für das Achtelfinale tatsächlich ein Bundesligist aus dem Lostopf gezogen: Der MSV Duisburg, der damals unter Jungtrainer Ewald Lienen zur allgemeinen Überraschung ganz oben in der Tabelle stand, wurde als Gast an der Hafenstraße erwartet – und dieses Spiel sollte gegenüber der St. Pauli-Partie noch eine deutliche Steigerung bringen.

RWE: Kurth; Geschlecht, Jack, Kügler, Pickenäcker, Margref (46. Ueding), Reichert (65. Thiel), Lipinski, Dondera, Grein, Bangoura. - Trainer: Jürgen Röber.

FC St. Pauli: Reinke; Philipkowski, Dammann, Hollerbach (66. Tholen), Schlindwein, Stanislawski, Gronau Pröpper, Zander, Driller (62. Manzi). Sailer. -Trainer: Seppo Eichkorn.

Tore: 0:1 Driller (11.), 0:2 Driller (55.), 1:2 Geschlecht (67.), 2:2 Bangoura (71.), 3:2 Geschlecht (98.). - Zuschauer. 9000. - Schiedsrichter: Georg Dardenne (Nettersheim).