Neuss. Rund 60 Jahre nachdem das Clemens-Sels-Museum ein Bild gekauft hatte, melden sich die Erben des Besitzers. Dennoch kommt es zu einem guten Ende.
Es ist scheinbar ein Schnappschuss, jedoch aufgeladen mit Symbolik, 1962 in einer Pariser Galerie für umgerechnet gut 100.000 Euro gekauft und jetzt gewissermaßen für 300.000 Euro zum zweiten Mal erworben – das ist kurz gefasst die Geschichte des Gemäldes „La Promenade“ von Édouard Vuillard, das gestern im Clemens-Sels-Museum in Neuss enthüllt wurde. Vorhang auf zu einem Happy End, gewissermaßen.
Das Bild heißt „La Promenade“ – der Spaziergang. Doch das hochformatige Kunstwerk in gelben, grünen, braunen Tönen hat alles andere als einen Spaziergang durch die Geschichte hinter sich, seit Édouard Vuillard die Szene von Frau und Kind beim Bummel über den Square des Batignolles in Paris einfing.
Zwischen historischer Schuld und Versöhnung
Jetzt, so scheint es, kann das Bild und seine Geschichte ein wenig zur Ruhe kommen: Das Clemens-Sels-Museum hat das Kunstwerk jetzt zum zweiten Mal erworben. Und wie Patina legt sich auf das Bild aus den 1890er Jahren eine weitere Schicht aus historischer Schuld und seit gestern auch der Schimmer einer Versöhnung.
Denn das Bild ist und war, indirekt zumindest, nationalsozialistische Raubkunst. 1936 hatte Armand Dorville, Kunstliebhaber, Rechtsanwalt und versierter Sammler, das Bild in Paris gekauft. Rechtzeitig vor dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 hatte er seine Sammlung nach Südfrankreich an die Dordogne gebracht, folgte ihr nach. Doch Dorville starb 1941 kinderlos.
Seine Gemäldesammlung ging an seine Geschwister, Nichten und Neffen, die vom NS-Regime genötigt wurden, die Kunstwerke 1942 in Nizza zu versteigern. Tausenden Kunstwerken erging es so: Aus Not und unter Zwang kamen sie unter den Hammer.
Erlös wurde beschlagnahmt: Erben erhielten erst 1948 eine Auszahlung
Schlimmer noch: Sogar der Erlös der Auktion, Dorville hatte mehr als 400 Kunstwerke gesammelt, wurde den Erben nicht ausgezahlt, sondern beschlagnahmt. Womöglich hätten die Nichten und Neffen des jüdischen Sammlers mithilfe des Geldes vor dem NS-Holocaust fliehen können. Erst 1948 bekamen die Erben und Erbinnen die Auktionserlöse ausgezahlt. Zu wenig, zu spät.
In diesen Tagen jährt sich daher für die Familie Dorville der 80. Todestag der Großnichten des Sammlers: Die Kinder, zwei und vier Jahre alt, wurden Ende April 1944 in Auschwitz ermordet, so wie mindestens drei weitere Familienangehörige, darunter eine Schwester Armand Dorvilles.
Insofern muss man es umso mehr wertschätzen, dass am 22. April 2024 mit Francine Kahn und Raphaël Kahn zwei Vertreter der Erbengemeinschaft von Armand Dorville hier im ersten Stock des Clemens-Sels-Museums stehen und das Gemälde ihres Großvaters erneut enthüllen und wieder übergeben an das Museum.
Nach der Versteigerung 1942 war der Verbleib unklar
Das erste Mal kam das Spaziergangsbild 1962 in den Bestand des Neusser Museums: Die damalige Museumsleiterin Irmgard Feldhaus kaufte mit Unterstützung Landes NRW das Werk in einer Pariser Galerie, die es wiederum von einer anderen Galerie übernommen hatte. Wie diese an das Werk aus der Versteigerung von Nizza 1942 gekommen ist, ist unklar.
Fast 60 Jahre lang hing das Bild als eines der zentralen Stücke der Symbolismus-Sammlung im Neusser Museum, ehe sich die Vertreter des Dorville-Erben meldeten. Schnell war klar: Nach allen Regeln zur Restitutionalisierung muss die Stadt das Gemälde zurückgeben.
Indes: Es kam mithilfe des Landes und der Kunststiftung der Länder zu einer anderen Lösung: Innerhalb von zwei Jahren konnten sich die Erben Dorvilles mit dem Museum einigen: Sie bekommen eine Entschädigungszahlung in Höhe von 300.000 Euro – und das Museum kann sich weiterhin rühmen, eines von nur vier Vuillard-Gemälde in Deutschland zu besitzen, neben dem Frankfurter Städel Museum, der Neuen Pinakothek in München und dem Wallraff-Richards-Museum in Köln.
Kunstwerk nationalen Ranges und Symbol für die NS-Politik und die Raubkunst
So ist die „Promenade“ mehr: „Sie war immer schon beides: Kunstwerk nationalen Ranges und Symbol für die NS-Politik und die Raubkunst. Der nationalsozialistische Entzug von Kunstwerken zeigt den Vernichtungswillen des Regimes im Einzelnen“, so Stephanie Tasch von der Kulturstiftung der Länder.
„Ein Tag der Freude, der Hoffnung und des Dankes“, sagte Museumsleiterin Uta Husmeier-Schirlitz bei der kleinen Feierstunde. Das Gemälde, nun ergänzt um eine große Tafel zur Werkgeschichte und zur Familiengeschichte der Dorvilles, hat einen prominenten Platz direkt am Treppenaufgang im ersten Stock bekommen.
NRW-Kulturministerin Ina Brandes, eigens über den Rhein gekommen, betonte mit einem Grußwort die Bedeutung: „.Neben dem kunstgeschichtlichen Hintergrund erfahren wir nun etwas über seine früheren Besitzerinnen und Besitzer, über das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, und über die Geste der Wiedergutmachung, die uns über 80 Jahre später hier zusammengeführt hat.“
In NRW wird geforscht zur Herkunft von Kunstwerken
Das Land unterstützt derlei Forschung zur Herkunft von Kunstwerken in hiesigen Museen: 2020 hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft gemeinsam mit den beiden Landschaftsverbänden die „Koordinationsstelle für Provenienzforschung in NRW“ gegründet. Im vergangenen Jahr hat das Ministerium zudem erstmalig das „Förderprogramm Provenienzen NRW“ ausgeschrieben. Das Essener Museum Folkwang beispielsweise dokumentiert mit Ampelfarben an vielen Werken den Stand der Forschung über die Herkunft der Kunstwerke. Doch noch immer liegt einiges im Argen, so die Forschung.
Derzeit, so ein Sprecher des Ministeriums, liegt in den Häusern des Landes ein weiteres Restitutionsersuchen vor. Zudem werde das Land, wie in Neuss, die Museen unterstützen, „Werke im Rahmen von erfolgter Restitutionen zurück zu erwerben“.
Helfen würden dabei, das machte auch die Ministerin deutlich, klarere Regeln: „Auf Bundesebene machen wir uns für eine gesetzliche Regelung stark, um zukünftig noch mehr und schneller ,faire und gerechte Lösungen‘ im Sinne der Washingtoner Erklärung von 1998 zu finden.“ Die Ministerin ergänzte: „Der Weg der Wahl, den wir konsequent verfolgen, ist nach unserer Überzeugung die Einrichtung einer echten Schiedsgerichtsbarkeit.“
Geschichte weder leugnen noch glätten, sondern niemals vergessen
In Neuss hat man sich auch ohne Schiedsrichter einigen können und so eine wichtige Erinnerung gestiftet. Ganz im Sinne des Dorville-Erben Falk, der es gestern bei der Feierstunde so formulierte: „Es kommt darauf an, die Geschichte weder zu leugnen noch zu glätten, sondern vor allem darauf, sie niemals zu vergessen.“