Am Niederrhein. Uli Hauser hat ein Buch über seinen behinderten Bruder Johannes geschrieben. Wieso ein Sommer am Niederrhein vieles verändert hat.
Die beiden Brüder radeln mit ihrem Tandemrad an Maisfeldern vorbei, der Himmel ist grau und gleich kommt der Regen, aber das macht nix. Die Stimmung ist ausgelassen. „Ist das eigentlich schlimm, wenn man das sagt: behindert?“, fragt Uli. „Mhmh“, antwortet Johannes. „Nich‘, ne?“, sagt Uli, der alles mit seinem Handy filmt, auch wenn Johannes das anfangs noch „verblödet“ findet. Doch was am Ende dabei rauskommt, mag er dann doch. Uli hat ihren gemeinsamen Sommer festgehalten – in Videos, aber auch auf dem Papier. „Gemeinsam, anders, glücklich“ heißt das Buch, das im September erscheinen wird. Und der Untertitel verrät bereits, worum es geht: „Vom erfüllten Leben meines Bruders mit Behinderung.“ Und sein Bruder, das ist eben Johannes.
Wie der ganze „Rummel“, wie Uli Hauser es nennt, angefangen hat? Dazu muss er etwas ausholen. „Meine Eltern waren zum ersten Mal in ihrem Leben in Kur.“ Das war im vergangenen Sommer, genau in jenen Wochen, in denen Johannes sonst immer seinen Urlaub bei den Eltern verbringt. Aber dann könnten doch die beiden Brüder zusammen etwas unternehmen! Worauf Johannes denn Lust habe? „Kettenkarussell!“ Nun gut, das klingt zwar interessant, aber vielleicht gibt‘s ja noch eine praktischere Alternative? Tatsächlich fand Uli ein Gefährt, auf dem zwei Personen nebeneinander sitzen und strampeln können. So wurde das Tandemrad zu ihrem Kettenkarussell, das sich viel länger drehen sollte, als anfangs gedacht...
Von Orsoy nach Rheinberg
„Unser Verhältnis war immer relativ eng“, erzählt Uli, der insgesamt fünf Geschwister hat. Als Johannes geboren wurde, war Uli sieben Jahre alt. „Er war einfach da“, erinnert er sich. „Niemand hat mit uns darüber gesprochen, dass er eine Behinderung hat.“ Johannes war eben Johannes, „ein sehr feiner Kerl“, wie er ihn beschreibt. „Das hatte eine große Selbstverständlichkeit.“ Erst wenn jemand fragte, wie man denn mit dem Jungen umgehen solle, wurde die Behinderung zum Thema – das sonst in der Familie nie eines war. Damit Johannes aber auch mal eine andere Lebensgemeinschaft kennenlernen konnte, zog er mit 35 Jahren vom Orsoyer Elternhaus ins Rheinberger Wohnheim für Menschen mit Behinderung.
Es ist ein „cooles, zugewandtes Haus“, schwärmt Uli, „mit einem Spitzenteam“. Kein Wunder, dass sich Johannes dort sofort wohlfühlte. „Seitdem hat er zwei Familien: uns und die Leute dort“, sagt er. Die beiden Brüder sehen sich alle paar Wochen, wenn Uli aus Hamburg zurück in die Heimat kommt, oder eben, wenn sie ihren Urlaub zusammen am Niederrhein verbringen. „Ich wollte eigentlich nach Paris“, erzählt der 61-Jährige. „Aber das wollte er nicht.“ Deshalb fuhren sie einfach drauf los, ohne richtiges Ziel, radelten irgendwo zwischen Orsoy und Xanten, stoppten nur mal bei Tante Gertrud zum Kaffeetrinken oder an der Eisdiele für eine Abkühlung. Hauptsache, sie waren unterwegs!
Kleine Gesten, große Wirkung
Bewegung bringt Veränderung, das wurde Uli dabei bewusst, „auch im Kopf.“ Plötzlich redeten die Brüder anders als sonst, über alltägliche und persönliche Dinge. „Weißt du eigentlich, dass du eine Behinderung hast?“ Manchmal werden Fragen nicht gestellt, weil die Angst vor der Antwort zu groß ist. Mit der Zeit wurde Uli jedoch immer mutiger... und Johannes blieb gewohnt ehrlich: „Ja.“ Und ja, er sei manchmal traurig, dass er nicht alles alleine machen kann. Aber, das hat Uli im Gespräch mit seinem Bruder und den anderen Menschen im Wohnheim ebenfalls herausgefunden, „sie haben sich dazu entschieden, kein großes Aufhebens darum zu machen.“ Und das, findet er, „ist doch eine fantastische Haltung“.
Während des Urlaubs, der immer länger wurde, „weil meine Eltern die Kur verlängert bekommen haben“, lernte Uli auch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner besser kennen. „Das sind alles beeindruckende Charaktere“, hält er fest. „Du gehst da rein und hast sofort gute Laune.“ Dabei sind es immer die kleinen Gesten und Situationen, die eine große Wirkung haben. Wenn einer dem anderen über die Hand streicht, weil er weiß, dass ihm das gerade gut tut. Wenn sich Agnes darüber freut, dass sie 10 Schritte und mit Rollator sogar 15 Schritte laufen kann. Oder wenn Johannes immer selbstbewusst wird, weil er auf dem Rad endlich auch mal unabhängig ist – von anderen Leuten und von seinem Rollator.
Paris oder doch Niederrhein
Diesen „Hochgesang auf die Gemeinschaft und die Beziehungen“, wie Uli es formuliert, hat er nun auch auf Papier gebracht. „Weil ich sowieso Bücher schreibe“, sagt der Journalist fast lapidar, und weil der ZS Verlag eine Anfrage stellte, ob er sich nicht mal einem solchen Thema widmen könnte. Gerade einmal einen Monat hat er gebraucht, um seine Erlebnisse und Gedanken festzuhalten. Mit dem Ergebnis hätte er selbst kaum gerechnet, das muss er zugeben: „Ich habe 40 Jahre lang Geschichten aufgeschrieben und bin selbst überrascht davon, dass diese so gute Laune macht.“ Johannes hat er auch schon daraus vorgelesen, natürlich, und auch er ist damit zufrieden.
Gemeinsam, anders, glücklich
Uli Hauser ist in Orsoy aufgewachsen und lebt heute in Hamburg. Zunächst arbeitete er bei der NRZ, seit 1992 ist er als Reporter für den Stern tätig. Er wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet und hat bereits mehrere Sachbücher veröffentlicht.
Das Buch „Gemeinsam, anders, glücklich. Vom erfüllten Leben meines Bruders mit Behinderung“ zählt 176 Seiten, kostet 22,99 Euro und erscheint am 7. September im ZS Verlag. Vorbestellungen sind schon jetzt möglich.
Zur Buchvorstellung kommen Uli Hauser und sein Bruder Johannes am 15. September zum Rheinberger Marktplatz. Dann sollen u.a. auch behinderte Menschen den nicht-behinderten Menschen zeigen, wie das Fahren mit dem Tandemrad funktioniert...
Wobei der Sommer gefühlt schon wieder ewig her ist... aber keine Sorge, bald dreht sich ihr „Kettenkarussell“ wieder: Der nächste Urlaub ist bereits in Planung. Wohin es dann geht? „Mal sehen“, antwortet Uli. Vielleicht ja doch nach Paris, wahrscheinlich aber eher wieder an den Niederrhein. Eines steht dann aber fest: Johannes nimmt Uli mit, nicht andersherum. Denn, „ich war Gast bei ihm“, sagt er. Das hat er spätestens dann verstanden, als sie damals auf dem Tandemrad an Maisfeldern entlanggeradelt sind. „Ich bringe dich jetzt zurück ins Heim“, sagt Uli in dem Video. „Nee“, widerspricht Johannes und lacht, „ich bringe dich dahin!“