Kabul. Das Friedensdorf International aus Oberhausen hilft verletzten und kranken Kindern. Dabei gehen die Helferinnen und Helfer jetzt neue Wege.
Habibullah liegt auf dem Operationstisch, seine Augen sind geöffnet, er wirkt ruhig. Der Junge hat gerade eine Rückenmarknarkose bekommen. Ein Tuch hängt quer über seinem Oberkörper, so dass er nicht sehen kann, was die Ärzte tun. Das afghanisch-deutsche Team macht sich an die Arbeit. Dr. Mohammad Ayub Haidar und Dr. Ralf Steinen-Perschke schneiden den linken Unterschenkel auf und legen den kranken Knochen frei.
Es ist eine Premiere für das Friedensdorf International aus Oberhausen. Erstmals lässt die Hilfsorganisation ein Kind in seiner Heimat operieren.
Drei Tage zuvor: Friedensdorf-Mitarbeiterin Birgit Hellmuth, Dr. Steinen-Perschke und der afghanische Arzt Dr. Marouf Niazi sitzen im schlichten Büro der deutschen Hilfsorganisation auf dem Gelände des Afghanischen Roten Halbmonds in Kabul.
Chirurg aus Mülheim unterstützt das Friedensdorf aus Oberhausen
Schon seit dem frühen Morgen sind Eltern mit ihren Kindern hineingekommen, haben auf der schmalen Holzbank Platz genommen und geschildert, was ihren Söhnen oder Töchtern fehlt. Viele haben dicke Plastiktüten mit Röntgenbildern oder ärztlichen Diagnosen dabei. Für sie ist das Friedensdorf die letzte Hoffnung.
Manche Kinder haben grotesk verdrehte Arme und Beine, verkrümmte oder amputierte Hände und Füße oder wie geschmolzen aussehende Gesichter, weil sie schwere Brandverletzungen erlitten haben oder Opfer von Explosionen wurden. Bei anderen tauchen unter alten und schmierigen Verbänden eiternde Fisteln auf, das sind die Kinder, die unter Knochenentzündungen leiden. Manchmal muss Dr. Steinen-Perschke schlucken. „Ich sehe hier Sachen, die ich allenfalls aus Lehrbüchern kenne und die es in Deutschland in der Form nicht gibt“, sagt der Chirurg aus Mülheim.
Vom Roten Halbmond beschützt
Steinen-Perschke, 64, war im vergangenen Jahr zum ersten Mal mit auf einer Mission in Afghanistan. „Vor der Reise war ich nervös, ich wusste nicht, was auf uns zukommt“, erinnert er sich. Es läuft alles glatt. „Als bedrohlich habe ich die Lage nicht empfunden, ich habe mich gut vom Roten Halbmond beschützt gefühlt.“ Der Afghanische Rote Halbmond ist seit mehr als drei Jahrzehnten die Partnerorganisation des Friedensdorfes. Das gegenseitige Vertrauen ist so groß, dass die Helfer aus dem Ruhrgebiet bereits direkt nach der erneuten Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren als eine der ersten deutschen Hilfsorganisationen wieder ins Land am Hindukusch reisten.
Gegen Mittag taucht Habibullah mit seinem Vater im Büro auf. Der schlanke, großgewachsene Junge schleppt sich auf Krücken hinein. Auch sein Vater geht an Krücken, er ist 70 Jahre, hat ein schmales Gesicht mit weißem Bart, trägt einen Turban.
Die beiden kommen aus Sarake Awal, einem Dorf in der Provinz Takhar nördlich von Kabul. Ein Fahrer hat sie mit einem alten Toyota zusammen mit der Mutter und dem Bruder in die Hauptstadt gebracht. Die Fahrt hat fast 24 Stunden gedauert. Viele der Familien, die an diesem Tag in das Büro kommen, sind noch länger unterwegs gewesen.
Eine unbehandelte Knochenhautentzündung kann zum Tod führen
Habibullah leidet unter einer massiven Knochenentzündung am linken Unterschenkel. Unbehandelt kann die Krankheit zum Tod führen. In den vergangenen zwei Jahren werden den deutschen Helfern immer häufiger Kinder mit Knochenentzündungen vorgestellt. Es ist auch ein Ausdruck der sich drastisch verschlechternden Ernährungssituation und der massiven Probleme im Gesundheitssystem Afghanistans. Das Friedensdorf kann nur eine begrenzte Zahl an Kindern mit nach Deutschland nehmen. Die Organisation ist auf Freibetten in deutschen Krankenhäusern angewiesen.
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„Die Krankenhäuser in Deutschland stehen unter großem wirtschaftlichen Druck. Es wird für uns schwerer, kostenlose Behandlungsplätze zu bekommen“, erklärt Claudia Peppmüller, Sprecherin des Friedensdorfes, die ebenfalls bei der Mission dabei ist. Es ist für die Helfer eine schwer erträgliche Situation. „Wir mussten im Februar mehr als 100 Kindern mit Knochenentzündungen vertrösten, die dringend eine Behandlung gebraucht hätten“, erzählt Peppmüller. Manche dieser Kinder werden heute tot sein. Andere sind möglicherweise in den Provinzen operiert worden. „Dort wird manchmal ohne Narkose amputiert.“
Deswegen hat das Friedensdorf entschieden, einige der Kinder in Afghanistan behandeln zu lassen. Die Helfer haben sich private Krankenhäuser angeschaut, die einen besseren Standard als die staatlichen haben, aber für viele Eltern eigentlich unerschwinglich sind.
Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Afghanistan ist bitterarm. Der Monatsverdienst eines Lehrers liegt bei umgerechnet etwa 100 Euro, ein Röntgenbild schlägt allein mit sechs Euro zu Buche. Operationen können umgerechnet Tausende Euro kosten. „Wir haben schon in Usbekistan und Kirgisistan Erfahrungen mit Operationen in den Heimatländern gesammelt. In Afghanistan fangen wir jetzt mit Behandlungen an, die uns nicht als zu aufwendig und kompliziert erscheinen“, erklärt Peppmüller.
Die Wunde wird gespült
Die deutschen Helfer beraten sich lange, entscheiden dann, dass Habibullah im Cure-Hospital in Kabul operiert werden soll. Der Junge und der Vater sind einverstanden. Und so liegt der Zwölfjährige drei Tage später auf dem Tisch in einem der vier Operationssäle des Krankenhauses. Dr. Ralf Steinen-Perschke nimmt an der Operation als Assistenzarzt teil. Es ist eine vertrauensbildende Maßnahme, natürlich auch eine, die der Kontrolle dient, um zu schauen, was die afghanischen Kollegen können.
Der afghanische Chirurg legt den kaputten Knochen frei, es sieht aus wie ein blutverschmiertes Korallenriff. Chirurgie ist Handarbeit. Der Arzt hämmert und schabt und bohrt zwei Stunden, es gilt, die toten Knochenstücke zu entfernen, in denen sich die Bakterien sammeln. Er entfernt zwei Stücke, die jeweils so groß sind wie ein kleiner Finger, dann spült er die Wunde, legt desinfizierende Tamponaden ein, vernäht das Bein mit fünfzehn Stichen. Fachlich saubere Arbeit, urteilt Steinen-Perschke. „Die Ausstattung im Krankenhaus ist ein bisschen archaisch, aber die Hingabe und Professionalität des Personals sind bemerkenswert.“
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Einige Stunden später liegt Habibullah in seinem Krankenbett, noch weiß um die Nase, einen dicken Verband ums Bein. Er lächelt müde. Sein Vater und seine Mutter sitzen auf einem Sofa vor dem Bett, sie essen Fladenbrot und Reis. Auch der Vater ist zufrieden. „Danke für eure Hilfe“, sagt er zu den Friedensdorfmitarbeitern. „Wenn wir die Kinder hier operieren lassen, müssen sie nicht von ihren Familien getrennt werden “, sagt Claudia Peppmüller. Wenn sie nach Deutschland kommen, bleiben sie dort monatelang, manchmal länger als ein Jahr. Habibullah wird in einigen Tagen nach Hause gehen. Das Friedensdorf wird prüfen, wie es ihm weiter ergeht.