Oberhausen. In Oberhausen zeigt sich im Kleinen, wie Frieden im Großen möglich sein könnte. Ein Besuch beim Friedensdorf International.
Die Jungs sitzen im großen Speisesaal auf Stühlen oder in ihren Rollstühlen und warten auf das Frühstück. Sie reden in verschiedenen Sprachen, das Lachen klingt gleich. Manche haben Gesichter, die aussehen, als seien sie geschmolzen, bei anderen ragen Metallgestänge aus den Beinen. Sie reichen sich die Hände. Viele Finger sind verkrümmt, das sind die Hände derer, die sich mit kochendem Wasser verbrüht haben, die in glühend heiße Erdbacköfen gestürzt sind oder die von Explosionen verletzt wurden. Dann heben sie die Arme, alle rufen „Frieden“, auch Wahidullah aus Afghanistan. Es ist eines der ersten deutschen Worte, die der Elfjährige in Oberhausen gelernt hat.
Wahidullah, ein schlanker, großer Junge mit bernsteinfarbenen Augen stammt aus Wardak, einer Provinz im Süden der afghanischen Hauptstadt. Afghanistan ist eines der Länder, aus denen das Friedensdorf International seit mehreren Jahrzehnten Kinder zur Behandlung nach Deutschland holt.
Im Februar steht Wahidullah in einem Büro in Kabul
Im Februar steht Wahidullah mit seinem Vater in einem kleinen Büro in Kabul, sie haben lange in einem großen Saal gewartet, zusammen mit Hunderten anderer Kinder und ihren Eltern. Zitternd vor Aufregung zeigt er einer Helferin seine Hände, die vernarbten Finger, die er nicht mehr richtig bewegen kann. Die Helfer entscheiden: Der Junge kann nach Deutschland kommen.
In Oberhausen bereiten sich Tanja Pohr und ihr Team in den Wochen darauf auf die Ankunft der neuen Kinder aus Afghanistan vor. Pohr leitet den Heimbereich des Friedensdorfes. Mit Wahidullah sind es diesmal 80 kleine Patienten. „Wir wollen ihnen die Ankunft so angenehm wie möglich gestalten“, sagt Pohr. Das Team prüft, welche der Kinder direkt nach der Landung in Krankenhäuser gebracht werden, oder in welchem der weißen, dreigeschossigen Häuser auf dem Gelände in Oberhausen die Neuankömmlinge untergebracht werden müssen, sortiert Kleidung vor, beschriftet die Betten, bereitet Medikamente vor.
Am 23. März landet Wahidullah mit den anderen Kindern in Deutschland. Im Friedensdorf warten die Helfer auf die Neuen. „Ich kriege immer eine Gänsehaut, wenn ich an den Moment denke, wenn sie ankommen“, sagt Pohr. Sie hat auch einen Kloß im Hals, als sie die afghanischen Kinder sieht. Die Kleinen sehen mitgenommen aus, viele haben Läuse oder Krätze, sie sind dünner als in den Jahren zuvor. Die Lage in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 dramatisch verschlechtert, die Not ist groß, viele Hilfsorganisationen haben das Land verlassen.
Im Friedensdorf warten auch die anderen Kinder auf die Neuen. Kinder aus Angola, dem Irak, Gambia, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Afghanistan. Diejenigen, die schon länger da sind, sind eine Hilfe für Pohr und ihr Team. Sie malen Bilder, legen Handtücher aus, verteilen Toilettenpapier.
Vor allem erklären die Älteren den Neuen in ihrer Landessprache die Regeln im Friedensdorf, nehmen ihnen die Ängste vor dem Unbekannten. Bevor Wahidullah und die anderen gekommen sind, haben sie diejenigen verabschiedet, die nach ihrer Behandlung wieder in die Heimat geflogen sind. „Wenn im Speisesaal die Namen derjenigen vorgelesen werden, die zurückfliegen, jubeln und klatschen alle Kinder jedes Mal. Alle freuen sich für die anderen“, erzählt Pohr.
Vor dem Abschied haben die Kinder, die bleiben für die, die gehen, gesungen und getanzt und Theater gespielt. Der Abschied ist jedes Mal ein Freudenfest.
Alle unterstützen sich gegenseitig
Wahidullah und die anderen Neuen, die kleine Sima mit dem vernarbten Gesicht, die ihr Auge nicht schließen kann, deren Unterlippe am Kinn klebt und deren Händchen verstümmelt sind, oder Asia mit den kaputten Fingern, leben sich rasch im Friedensdorf ein. Kindern ist es egal, wie ihre Spielgefährten aussehen. Sie toben gemeinsam auf dem Platz vor den Wohnhäusern oder auf dem Fußballfeld, sie lernen zusammen, helfen sich. „Alle unterstützen sich gegenseitig“, erzählt Lena Timmermann, die im Mädchenhaus arbeitet.
In ihrem Büro hängen bunte Bügelperlen-Bilder. Die haben Kinder für sie gebastelt. „Ich liebe dich“ steht darauf oder „Du bist immer in meinem Herz“.
In der Reha-Einrichtung auf dem Gelände, in der die Kinder Krankengymnastik und medizinische Versorgungen bekommen, steht Qudratullah, 12, und beobachtet, wie Ärztin Katrin Huskamp einen Verbandswechsel bei einem der neuen Kinder durchführt. „Ich bin Praktikant“, sagt er selbstbewusst. Er geht der Ärztin zur Hand, reicht Verbände an. „Das macht er sehr gut“, lobt die Ärztin.
Im Erdgeschoss dieses Gebäudes ist der Operationssaal, den das Friedensdorf vor rund zwei Jahren neu gebaut hat. Hier führen ehrenamtliche Mediziner kleinere Eingriffe durch. Auch Wahidullah, Sima und Asia werden hier in einigen Wochen operiert werden.
Im Speisesaal wird es heute Mittag Hähnchen geben. Der große Renner ist aber Currywurst, natürlich gemacht aus Hühnchen, erzählt Sandro Somigli, der italienische Koch. Somiglis Küchenteam ist international, so wie das gesamte Team des Friedensdorfes.
In der Einrichtung arbeiten Menschen aus Afghanistan, Albanien, Deutschland, dem Iran, Japan, Kasachstan, Nigeria, Polen, Syrien, Russland und der Ukraine. Im Friedensdorf kommt die ganze Welt zusammen.
Wahidullah steht draußen auf dem Gemeinschaftsplatz, umringt von anderen Kindern. Ein anderer Junge übersetzt für ihn. Natürlich vermisst er seine Eltern. „Aber es ist gut hier“, sagt der Elfjährige, und dass es ihm Spaß macht, mit den anderen zu spielen. Was für ihn Frieden bedeutet? Er überlegt ein wenig. Dann sagt er: „Zusammensein.“