An Rhein und Ruhr. Das Atomkraft-Zeitalter in Deutschland endet. Am Niederrhein erinnern sich AKW-Gegner daran, wie der „Schnelle Brüter“ in Kalkar verhindert wurde.
Die Zeit der Energiegewinnung aus der Atomkraft ist an diesem Samstag in Deutschland vorbei. Die letzten Anlagen, die Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland, gehen vom Netz. Am Niederrhein, wo in Kalkar mit Kosten in Milliardenhöhe ein Kernkraftwerk, der „Schnelle Brüter“, errichtet wurde, das niemals in Betrieb war und als Investitionsruine in die Geschichte einging, sind einstmals Aktive aus der Anti-AKW-Bewegung froh, dass das Kapitel „Atomkraft“ ein Ende findet. Wobei „Ende“: Die Frage der Lagerung der strahlenden Abfälle, Brennstäbe und weiterer Stoffe, werde das Land noch auf Generationen beschäftigen, wie die Gesprächspartner der NRZ, Bruno Schmitz, Willibald Kunisch und Bärbel Höhn, betonen.
Bruno Schmitz, Kulturmanager und Kabarettist aus Kleve, war in den 1970er- und 80er-Jahren mittendrin in der „lauten Minderheit“, welche den Kernkraftwerksbau in Kalkar ablehnte. „Ich gehörte zu denen, die ein Jahrzehnt gegen den Schnellen Brüter gearbeitet, ich will sogar sagen gekämpft haben.“ Schmitz war Lehrer an einer Hauptschule in Rees. Nach dem Unterricht ging es zum Protest.
Proteste gegen AKW in Kalkar: Melkstall wurde zum Zentrum
Einen Melkstall, den Landwirt Josef Maas, in der Anti-AKW-Bewegung als „Bauer Maas“ bekannt und zur Symbolfigur erhoben, zur Verfügung stellte, widmeten die Aktivisten zum Informationszentrum und Freundschaftshaus um. „Bauer Maas konnte prozessieren, weil er mit seinen Weiden unmittelbar an das Kraftwerksgelände grenzte.“ Der konservative Landwirt sei zum erbitterten Atomkraftgegner geworden, verschuldete sich, um gegen die Inbetriebnahme zu klagen. Hoch verschuldet musste er seinen Hof verkaufen, kehrte der Region den Rücken. „Für die Feier 1991 kam er zurück, als feststand, dass der Brüter nicht in Betrieb geht.“
Die Stimmung in der Region sei zu Anfang sehr gespalten gewesen, erinnert sich Schmitz zurück, eine Mehrheit habe die Atomkraft befürwortet, glaubt er. Der Kraftwerksbau und -betrieb brachte Arbeitsplätze, der Energieriese RWE bedachte Kirchengemeinden in der Umgebung mit Spenden. „Doch viele junge Leute hatten Bedenken. Wie gefährlich ist diese Technik? Was passiert im Ernstfall? Was ist mit dem Abfall?“ Den Demonstrierenden sei klar gewesen: Atomkraft bringt unfassbare Risiken und Folgen mit sich.
Atomkraftgegner Kalkar: „Nicht auf die Idee gekommen, uns irgendwo festzukleben“
„Heute kleben sich die jungen Leute von der Gruppe ‘Letzte Generation’ auf der Straße fest um auf die Klimakatastrophe hinzuweisen. Das ist auch vollkommen in Ordnung so, es ist eine neue Form des Protestes. Wir sind damals nicht auf die Idee gekommen, uns irgendwo festzukleben“, gerät Schmitz, inzwischen 76 Jahre alt, ein wenig ins Schmunzeln.
„Wind, Sonne, Biogas, wir haben die Alternativen. Wir haben die Chance der Welt zu zeigen, dass es ohne fossile Brennstoffe oder Atomkraft geht“, blickt das langjährige Ensemblemitglied der Kölner „Stunksitzung“ positiv in die Zukunft.
Willibald Kunisch, heute auch mit fast 82 Jahren noch Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kalkarer Stadtrat, hat als überzeugter Atomkraftgegner („Es handelt sich um eine unverantwortliche Technik, eine, die keine menschlichen Fehler verzeiht.“) ambivalente Gedanken zur AKW-Abschaltung. In gewisser Weise schlagen zwei Herzen in seiner Brust. „Ich halte es für kontraproduktiv, wenn nun erstmal Kohlekraftwerke weiterlaufen. Da überlege ich mir schon etwas, ob die drei letzten Kraftwerke nicht noch für einen überschaubaren Zeitraum weiter hätten laufen können.“
Atomkraft-Gegner vom Niederrhein: Meinung wurde aufgepeitscht
Kunisch hatte sich, wie Schmitz, gegen den Schnellen Brüter engagiert. „Man wollte in einer ruhigen Ecke das Kernkraftwerk errichten, anstatt in der Eifel am Niederrhein. Hier rechnete man mit wenig Widerstand, fuhr die CDU bei Wahlen doch Ergebnisse über 70 Prozent ein.“ Die Meinung gegenüber den Demonstranten sei aufgepeitscht worden, auch in den Medien, ist Kunisch überzeugt. Es seien Gerüchte lanciert worden, es seien alles Kommunisten, von der DDR aus gesteuert.
Doch das Ansehen der Atomkraft in der Öffentlichkeit habe sich über die Jahre verändert. Der Reaktorunfall nahe der US-amerikanischen Stadt Harrisburg im Kraftwerk Three Mile Island 1979, die Kernschmelze in Tschernobyl 1986 und nicht zuletzt die Katastrophe im japanischen Fukushima 2011 hätten aufgezeigt, dass diese Technologie nicht zu beherrschen sei.
Die Erleichterung als das Aus für den Brüter kam, sei groß gewesen. Sie wich in den Jahren danach aber dem Ärger über eine wenig weitsichtige Energiepolitik im Land. „Die Alternativen wurden ausgebremst“, sagt Kunisch. Viel sei verschlafen worden, etwa aufgrund des günstigen Ölpreises. Viele technischen Lösungen, etwa die aktuell vielfach diskutierte Wärmepumpe, hätte es auch schon in den 80er-Jahren gegeben. „Es gibt immer noch keine großen und leistungsfähigen Stromleitungen, um Windkraft von Ost- und Nordsee in den Süden zu transportieren.“
Ex-NRW-Ministerin Höhn über Atomkraft-Aus: „Ein Tag, auf den ich hingearbeitet habe“
Wahl-Oberhausenerin Bärbel Höhn, Ex-Bundestagsabgeordnete der Grünen und ehemalige NRW-Umweltministerin, wird den Samstag in Berlin begehen, dort mit Atomkraftgegnern die Abschaltung feiern. „Über vier Jahrzehnte hat es gedauert, nun sind wir an diesem Punkt. Es ist ein Tag, auf den ich und viele weitere immer hingearbeitet haben.“
Sie berichtet in der Rückschau von den Ängsten der jüngeren Generationen in Zeiten des Kalten Krieges. „Mit der zivilen Nutzung der Atomkraft geht immer auch die Gefahr einer militärischen Verwendung einher. Das trieb uns um.“ Sie selbst, gebürtig aus Schleswig-Holstein stammend, kann sich an Demonstrationen gegen das dortige Kernkraftwerk Brokdorf erinnern. Die Kosten der Endlagerung atomarer Abfälle sei nie in die kurzfristige Betrachtung einbezogen worden. „Noch auf hunderttausende Jahre werden wir schauen müssen, was mit diesen Hinterlassenschaften passiert.“
Die Planungen für das Kernkraftwerk Kalkar begangen, nachdem der zuerst von RWE geplante Standort Weisweiler bei Eschweiler nach Einspruch der Bundesregierung 1971 aufgegeben werden musste. Ursprünglich sollte der Schnelle Brüter, dessen Grundsteinlegung am 25. April 1973 erfolgte, 940 Millionen D-Mark kosten. Die Rechnung für die Steuerzahler belief sich am Ende auf eher sieben Milliarden D-Mark. Am 24. September 1977 gab es in Kalkar eine Großdemonstration, bei der 40.000 Menschen gegen die Fertigstellung des Werks protestierten. Die für die Genehmigung zuständige Landesregierung verweigerte nach der Fertigstellung 1985 die Inbetriebnahme – es gab Sicherheitsbedenken. In der Nacht auf den 21. März 1991 informierte Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber über das endgültige Aus. Das Areal wurde verkauft, ein Vergnügungspark entstand.