An Rhein und Ruhr. Der Verkehr auf der Schiene wächst – aber das Schienennetz wächst nicht mit. Verbände fordern Reaktivierungen der Bahn vor allem auf dem Land.
Der Ausbau des Bahnnetzes vor allem im ländlichen Raum muss endlich Fahrt aufnehmen. Das fordern die „Allianz pro Schiene“ und der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV). Nach ihren Angaben liegen 103 Machbarkeitsstudien für die Wiederbelebung einst stillgelegter Bahnstrecken vor. In 79 Fällen hat die Prüfung ergeben, dass eine Wiederaufnahme des Personenverkehrs sich wirtschaftlich lohnen würde.
„Wir haben bald hundert Machbarkeitsstudien mit positivem Tenor, aber dennoch nur ein Schneckentempo bei den Reaktivierungen“, so Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene. Er forderte gemeinsam mit Martin Henke, Geschäftsführer des VDV, deutlich mehr politische Unterstützung vom Bundesverkehrsministerium und deutlich mehr Eifer bei der Deutschen Bahn.
Die Bahn habe vor zwei Jahren von den 4500 Kilometern Streckennetz, die die Verbände als Reaktivierungskandidaten ausgemacht haben, 1300 Kilometer als reaktivierungswürdig in den Fokus genommen. Dann aber sei nichts passiert, bis auf eine Neueröffnung in Brandenburg. Henke fordert ein „Bundesprogramm Reaktivierung“ von Volker Wissing (FDP): „Ich habe zu dem Thema noch kein Wort des Bundesverkehrsministeriums vernommen. Es gibt auch keine einzige Pressemitteilung des Ministeriums, wo Reaktivierungen überhaupt mal thematisiert wurden“, so Henke.
16 Strecken identifiziert – meist im ländlichen NRW
Es reiche nicht, nur so genannte Hochleistungskorridore zu sanieren, insbesondere im ländlichen Raum ließen sich durch Reaktivierung von Schienenwegen mehr als eine Million Menschen wieder mit Anschluss ans Bahnnetz versorgen. Gut sei immerhin, dass der Bund die Baukosten bei Reaktivierungen zu 90 Prozent übernimmt, wenn es um Personenverkehr gehe. Eine solche Förderung brauche es auch für die Wiederbelebung von Güterzugstrecken. NRW darf sich rühmen, bei der Zahl der Reaktivierungskandidaten mit 16 geprüften Strecken das zweitbeste Bundesland zu sein. Allein am Niederrhein wurden fünf Kandidaten ausgemacht.
Immerhin schütze das jetzt beschlossene Planungsbeschleunigungsgesetz Eisenbahntrassen und ermögliche die schnellere Reaktivierung. Dennoch warnte Dirk Flege vor Hoffnungen auf schnelle Erfolge: Selbst im Idealfall, wenn die Infrastruktur komplett vorhanden sei, müsse mit zwei Jahren Vorlauf gerechnet werden. Müssten Strecken wieder errichtet werden, könnten bis zu zehn Jahre nötig sein.
Beide Verbände bemühten sich, Sorgen vor fehlendem Personal für den Betrieb reaktivierter Strecken zu zerstreuen: Als Zugbegleiter oder Lokpersonal bei Bahnunternehmen einzusteigen, werde zunehmend attraktiver, zudem böten Reaktivierungen auf dem Land Chancen auf ortsnahe Arbeitsplätze und seien sehr attraktiv.
Das Schienennetz wächst 2023 - um knapp 3 Kilometer
Immerhin: NRW ist 2023 das einzige Bundesland, in dem ein Stück Schiene für Personenverkehr reaktiviert wird. Es handelt sich um zwei Verbindungskurven in der Nähe des Autobahnkreuzes Herne. Sie ermöglichen ab Mitte Dezember eine neue Zugverbindung zwischen Bochum und Recklinghausen. Diese etwa drei Kilometer sind die einzigen, die bundesweit das Schienennetz ergänzen. Ein Netz, das in den letzten 30 Jahren um 12 Prozent geschrumpft ist, während sich der Güterverkehr auf der Schiene verdoppelt hat und der Personenverkehr um ein Drittel wuchs. Kein Wunder also, dass mehr Strecke nötig ist, so die Verbände.
Wobei: Die in NRW ins Auge gefassten Reaktivierungen werden das bestehende Netz eher be- als entlasten. Denn wenn, beispielsweise, die Strecken von Moers nach Kamp-Lintfort (ab 2026) und Neukirchen-Vluyn wieder betrieben werden und die „Walsumbahn“ von Wesel aus den Duisburger Norden wieder ans Schienennetz anschließen wird (irgendwann nach 2030), löst das mehr Verkehr in den großen Knotenpunktbahnhöfen aus. Entlastung, zumindest bei Bauarbeiten, verspricht da eher die ebenfalls ins Auge gefasste Wiederaufnahme des Personenverkehrs auf der Ratinger Weststrecke, die über Wedau und Ratingen eine weitere Verbindung zwischen Duisburg und Düsseldorf schaffen wird - in etwa zehn Jahren.
Diese Kandidaten in der Region sind unstrittig, was die Reaktivierung angeht, genauso wie die Verlängerung der S28 von Düsseldorf über Kaarst weiter bis Viersen. Hierzieht auch der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr mit, der die Züge dort bestellen und bezahlen muss.
Weitaus problematischer, auch weil die Trassen mittlerweile Radwege, Draisinenstrecke oder schlicht überbaut sind, sind die von der Allianz pro Schiene ebenfalls ins Auge gefassten Strecken von Kleve nach Xanten und Nimwegen. Zumal sich vor allem auch auf niederländischer Seite massiver Widerstand gegen die Wiederbelebung regt. Dennoch steht die Route im Zielnetz 2040 des VRR. Eine Sorge zerstreute die Allianz pro Schiene: Auf wiederlebten Strecken würden im Personenverkehr künftig leise Akkutriebwagen das Verkehrsmittel der Wahl - also kein Dieselradau. Dies gilt zumindest am Niederrhein.
Umfassende Elektrifizierung in der Eifel
In der Eifel indes sollen rund 100 Kilometer Streckennetz mit Oberleitungen versehen werden. setzt man auf Strom aus der Oberleitung - dazu gab NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne) heute den Auftakt. Für 400 Millionen Euro werden bis Ende 2026 drei Bahnstrecken im südlichen NRW elektrifiziert.
Es um die von der Hochwasserkatastrophe 2021 beschädigte Erfttalbahn zwischen Euskirchen und Bad Münstereifel sowie die Voreifelbahn von Bonn nach Euskirchen und die Eifelstrecke zwischen Hürth-Kalscheuren und Nettersheim. Zusammengerechnet werden 113 Streckenkilometer modernisiert, indem rund 2600 Oberleitungsmasten gesetzt und vier Brücken neugebaut werden. Auch hier gilt: 90 Prozent des Geldes kommen vom Bund, 10 Prozent vom Land.
Der Wiederaufbau läuft längst. Nun wird auch die Elektrifizierung der Strecken in Angriff genommen. Dabei setzt die Bahn auf ein neues Konzept, das die Planung und Bauzeit stark verkürzen soll. Außerdem wird darauf geachtet, die Bauten gegen Extremwetter besonders widerstandsfähig zu machen - die auf den Strecken im Unwetter vom Juli 2021 erfolgten Beschädigungen sollen sich nicht wiederholen können. Zum Beispiel haben Brücken keinen Mittelpfeiler mehr, damit sie bei einem Hochwasser möglichst wenig Angriffsfläche bieten.
„Nicht nur der Wiederaufbau wurde weitestgehend genehmigungsfrei gestellt und so deutlich beschleunigt, sondern auch die Elektrifizierung der Strecke konnte direkt aus einer Hand mitgeplant und umgesetzt werden“, sagte der Bundesschienenbeauftragte Michael Theurer (FDP). „Sowohl für das Klima als auch für die Reisenden istdas ein echtes Plus, denn elektrische Züge sind umweltfreundlicher, leiser und verlässlicher.“ Auch NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer zeigte sich zufrieden. „Der Wiederaufbau wird so mit einer modernen zuverlässigen Antriebswende verknüpft“, sagte der Grünen-Politiker. Das rasche Vorgehen zeige, dass Planungs- und Ausbaubeschleunigung in der Praxis funktioniere.