Essen. Die Finanznot der Pflegeheime ist groß, der Druck steigt. Ein neuer RWI-Report zeigt: Es fehlt an einer entscheidenden Stelle.

Selten plagten die Pflegeheime in NRW solch massive Sorgen wie im Jahr 2023. Steigende Preise und höhere Personalkosten haben den wirtschaftlichen Druck auf die Betreiber der rund 3000 Pflegeheime im Land deutlich verstärkt. Zugleich nötigt der anhaltende Personalmangel Einrichtungen dazu, vorhandene und dringend benötigte Pflegebetten leer stehen zu lassen.

Und der Druck wird weiter zunehmen. Das legt der aktuelle Pflegeheimreport des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung nahe, der am Montag veröffentlicht wird und vorab dieser Redaktion vorlag. Danach werden bis 2040 Hunderttausende zusätzliche Heimplätze benötigt – noch drängender ist allerdings der Fachkräftemangel.

Wie schlecht geht es den Pflegeheimen tatsächlich?

Für den neusten Pflegeheimreport hat das RWI gemeinsam mit der HCB GmbH und weiteren Partnern die Geschäftszahlen von rund 1800 Pflegeheimen in Deutschland aus den Pandemiejahren 2020 und 2021 ausgewertet. Aktuellere Daten gibt es derzeit nicht. Demnach hat sich die wirtschaftliche Lage der Heime in den Pandemiejahren sogar verbessert: 2021 bestand für nur neun Prozent der Pflegeheime ein erhöhtes Insolvenzrisiko. Zwei Jahre zuvor waren es mehr als doppelt so viele.

Kleinere Heime befanden sich eher im Risiko als größere, Einzelheime eher als größere Pflege-Ketten. In NRW war die Lage insgesamt etwas schlechter gewesen: Für elf Prozent der Heime bestand ein erhöhtes Insolvenzrisiko, jedes fünfte Heim machte am Jahresende einen Verlust.

Wieso ist diese Erholungszeit verpufft?

Die Fachleute führen die wirtschaftliche Erholung auch auf Hilfen in der Pandemie zurück. Deshalb habe diese Phase auch nicht von Dauer sein können, sagt RWI-Experte Ingo Kolodziej. „Nachdem einerseits die Coronahilfen weggefallen sind und anderseits die Personal- und Sachkosten gestiegen sind, hat sich Lage jetzt wieder verschlechtert.“

Für 2023 rechnet das RWI damit, dass für etwa 15 Prozent der Pflegeheime in Deutschland eine erhöhte Insolvenzgefahr besteht. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres haben rund 100 Pflege-Anbieter in NRW einen Insolvenzantrag gestellt. „Die Finanzlage der Pflegeheime lässt sich nicht durch kurzfristige Hilfen verbessern. Es braucht mehr Geld im System, etwa durch weitere Beitragserhöhungen“, sagt Kolodziej.

In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 gab es bereits rund 100 Insolvenzanträge von Pflege-Anbietern. Im Sommer schloss das „Seniorenzentrum Velbert“ nach der Insolvenz seines Betreibers.
In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 gab es bereits rund 100 Insolvenzanträge von Pflege-Anbietern. Im Sommer schloss das „Seniorenzentrum Velbert“ nach der Insolvenz seines Betreibers. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Was macht den Pflegeheimen besonders zu schaffen?

Der Personalmangel. Zwar sei es gelungen, in den vergangenen 20 Jahren bundesweit rund 427.000 Pflegekräfte mehr einzustellen, so dass rund 1,3 Millionen Menschen in der Alten- und Langzeitpflege arbeiten. Doch das reicht bei weitem nicht.

Schon jetzt werden Betten nicht belegt, weil Arbeitskräfte fehlen. Von 2019 zu 2021 ist die durchschnittliche Auslastung auf unter 90 Prozent gesunken. NRW steht zwar etwas besser da. Die Fachleute rechnen aber damit, dass sich die Lage verschärft, wenn der Personalmangel anhält. Er hat auch finanzielle Folgen: Bis 2030 würden mehr als die Hälfte aller Pflegeheime einen Jahresverlust schreiben, für fast ein Drittel bestünde eine erhöhte Insolvenzgefahr.

Wie geht es weiter?

Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden Jahren deutlich steigen. Derzeit werden in Deutschland rund fünf Millionen pflegebedürftige Menschen gezählt. Bis 2040 geht das RWI von 6,4 Millionen Menschen aus – das ist ein Plus von 28 Prozent. Zwar ist die Zahl der Heimbewohnenden in den Pandemiejahren erstmals zurückgegangen – es gab in vielen Teilen Deutschlands Aufnahmestopps, auch wurden die Heime eher gemieden. Bis 2040 sei aber davon auszugehen, dass es rund 1,1 Millionen Pflegeheimbewohner geben werde. Derzeit sind es 793.000.

Was heißt das für Angehörige?

Dass es schwieriger wird, einen Heimplatz zu finden – wenn nicht massiv investiert wird. Die Fachleute rechnen damit, dass bis 2040 rund 322.000 zusätzliche Plätze in den vollstationären Einrichtungen vonnöten wären. Geht man von einem klassischen 80-Betten-Pflegeheim aus, müssten damit rein rechnerisch 4000 weitere Pflegeheime gebaut werden, um den Bedarf zu decken. Das hätte gewaltige Investitionen in neue Immobilien und die Sanierung von Bestandshäusern zur Folge. Das RWI rechnet mit rund 125 Milliarden Euro.

Reicht es, neue Heime zu bauen?

Nein. Bis 2040 werden nach Berechnungen des RWI bis zu 380.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in der stationären und bis zu 183.000 in der ambulanten Pflege gebraucht. RWI-Experte Kolodziej spricht von großen Anstrengungen, die nötig sind, um mehr Personal zu gewinnen. „Da braucht es höhere Löhne, aber auch weichere Faktoren wie etwa bessere Karrieremöglichkeiten.“ Es könne helfen, mehr entnervte Pflegekräfte wieder zurück in den Beruf zu holen und die Arbeitszeit von Teilzeitkräften auszuweiten, „aber auch mehr Ausbildung und Zuwanderung sind Lösungswege“.

Was kann die Situation entspannen?

Laut RWI-Report braucht die Pflege nicht nur mehr Personal und Kapital. Die Fachleute plädieren zugleich für weniger und dafür einheitlichere Heimgesetze, um die Pflege für private Investoren wieder interessanter zu machen. Zudem müsse es gelingen, die Nachfrage zu senken, macht Kolodziej deutlich – sprich, die Zahl der Pflegebedürftigen zu reduzieren. „Reha-Angebote und Hilfen der Digitalisierung sollten gestärkt werden, um Menschen länger selbstständig zu halten. Es braucht aber auch eine altersgerechte Infrastruktur und letztlich einen stärkeren Fokus auf gesundes Altern“, so der Fachmann.

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