An Rhein und Ruhr. Personalmangel, hohe Kosten, schlechte Zahlungsmoral von Sozialämtern treiben manche Heime in die Pleite. Was passiert mit den Bewohnern?

Seit einigen Tagen herrscht helle Aufregung unter den Senioren, die in dem cremefarbenen sechsgeschossigen Haus an der Ahornstraße im bürgerlichen Essener Viertel Stadtwald leben. Es ist eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Mitte des Monats hat die Bewohner eine Nachricht erreicht, die sie entsetzt hat. Die Pflegefirma, die sie bislang betreut hat, ist pleite. Die Einrichtung muss Ende September schließen. Auf ihre alten Tage müssen die Bewohnerinnen und Bewohner noch einmal umziehen. Doch wohin? Was in Essen geschieht, ist kein Einzelfall. Durch die Pflegebranche rollt derzeit eine beispiellose Insolvenzwelle.

„Wir haben Personalmangel und sind mit utopischen Gehaltsforderungen konfrontiert worden“, berichtet Yvonne Christian, Verwaltungsleiterin der Essener Einrichtung, die von der Pflegefirma Empavita geführt wird, der Firma, die jetzt Insolvenz angemeldet hat. In Essen hat neben dem Personal-Problem ein Streit mit den Wohnungseigentümern in der Einrichtung zur Schließung geführt. Der eklatante Fachkräftemangel in der Pflege jedoch ist der wohl wichtigste Grund, warum Pflegeunternehmen in wirtschaftliche Schieflagen geraten.

Es trifft vor allem private und profitorientierte Unternehmen. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) vermeldet für dieses Jahr in Nordrhein-Westfalen bereits die Betriebsschließung von 27 vollstationären Einrichtungen, im gleichen Vorjahreszeitraum waren es gerade einmal sechs. „Seit Bestehen des bpa gab es noch nie eine solche Welle von Insolvenzen, Betriebsschließungen und teilweise auch endgültigen Schließungen“, sagt Landesgeschäftsstellen-Leiterin Christine Strobel.

Weniger Personal gleich weniger Bewohner gleich weniger Geld

Der Mangel an Pflegekräften treibt die Heime in eine Abwärtsspirale. Mindestens 50 Prozent der Beschäftigten in der Betreuung müssen Fachkräfte, also Alten- oder Krankenpfleger sein. Ist die Quote nicht erfüllbar, können die Einrichtungen nicht voll belegt werden. Damit sinken aber die Einnahmen, während die laufenden Kosten wie etwa Mietzahlungen weiter anfallen.

Beispiel Kreis Wesel: Keines der drei dort von der Caritas geführten Seniorenheime könne derzeit voll belegt werden, berichtet Caritasdirektor Michael van Meerbeck. Immerhin: Anders als private Unternehmen müssen die Caritas und andere Wohlfahrtsverbände keinen Gewinn machen. „Der Fachkräftemangel trifft uns trotzdem mit voller Breitseite“, klagt van Meerbeck.

Seit September vergangenen Jahres sind Heimbetreiber verpflichtet, ihren Pflegekräften Tariflöhne zu zahlen. „Eine angemessene Entlohnung ist ein ganz entscheidender Baustein bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege“, betont ein Sprecher des Landesgesundheitsministeriums. Wer bislang nicht nach Tarif gezahlt habe, stehe aber nun vor „Herausforderungen“.

Durch den jüngsten Tarifabschluss erhalten Pflegende bis Februar 2024 einen Inflationsausgleich in Höhe von insgesamt 3000 Euro und ab März eine Lohnsteigerung von 5,5 Prozent. „Für uns heißt das: Kostensteigerungen zwischen 13 und 20 Prozent“, rechnet Markus Kampling vor, Geschäftsführer der Katholischen Pflegehilfe in Essen. Auch wenn diese Kosten auf die Bewohner umgelegt werden können, müssen die Heime zunächst in Vorleistung treten.

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Das gilt auch bei den Kosten für Investitionen. Umso mehr ärgert es Kampling, dass er wie viele Heim-Betreiber noch immer auf sogenannte Investitionskostenbescheide der Landschaftsverbände wartet. Ohne diese Bescheide können die Heim-Betreiber nicht mit den Selbstzahlern oder den Sozialämtern abrechnen und die Investitionen refinanzieren. Insbesondere für Heime ohne nennenswerte Rücklagen kann es eng werden.

Auch Christine Strobel vom bpa kritisiert, dass die Berechnung und Bescheid-Erteilung zum Teil „Jahre in Verzug“ seien. Zudem seien die Bescheide „häufig grundsätzlich zu niedrig“ berechnet worden. Nicht zuletzt ärgert sich Strobel über Außenstände von Sozialämtern, die für Bewohner in die Bresche springen müssen, deren Rente nicht für die Begleichung der Heimkosten reicht. Landesweit schulden die Sozialämter in Nordrhein-Westfalen den Heimen derzeit demnach rund 12 Millionen Euro.

Bitter ist die Pleitewelle in der Pflegebranche vor allem für die Bewohner der betroffenen Einrichtungen. Sie werden mit einem unerwartet unruhigen Lebensabend konfrontiert. Allein von den Betriebsschließungen der 27 Einrichtungen im Verband des bpa seien fast 1800 Bewohner betroffen, berichtet Landesgeschäftsstellen-Leiterin Strobel. „Die tatsächliche verbandsübergreifende Anzahl dürfte mindestens doppelt so hoch liegen.“

Meistens können die Heime weiterbetrieben werden

Überwiegend fänden sich „tragfähige Lösungen für die Weiterführung oder Übernahme von Betrieben“, betont der Sprecher des Gesundheitsministeriums. Sprich: Das betroffene Heim muss nicht geschlossen werden. Geschieht das nicht, müssen die Bewohner umziehen. „Das stellt natürlich für die Betroffenen eine außergewöhnliche Härte da“, räumt der Sprecher ein.

So ist es mit der Einrichtung im Essener Viertel Stadtwald. Hier müssen die Bewohner raus. Verwaltungsleiterin Yvonne Christian ist zuversichtlich, dass alle 47 Menschen, die hier zuletzt betreut werden, andernorts unterkommen. Am meisten Sorgen bereitet ihr eine bettlägrige Bewohnerin, die aus Bochum nach Essen gezogen war. „Wir haben ihre Katze aus einem Tierheim geholt. Zusammen mit ihr ist die alte Dame aufgeblüht.“ Jetzt, sagt Christian, sucht sie ein Heim, das beide aufnimmt.