Mülheim. Vor 75 Jahren beschließt Mülheims Rat einen von Baudezernent Paul Essers vorgelegten Plan zur Neuordnung der City. Lange Debatte ging dem voraus.


„Was soll aus Mülheim werden?“ So fragt sich mancher heute, dem unsere Stadt an der Ruhr am Herzen liegt. Flüchtlinge müssen versorgt und integriert werden. Die Innenstadt braucht einen Neustart. Tengelmann und Vallourec waren gestern. Heute müssen ihre ehemaligen Werksgelände mit neuem Leben und neuer Wertschöpfung gefüllt werden. Was für uns heute der wirtschaftliche Strukturwandel und der demografische Wandel sind, war für unsere Altvorderen vor 75 Jahren der Wiederaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Vier Jahre nach Kriegsende sind immer noch nicht alle Straßen der Stadt trümmerfrei. Das wird erst 1953 der Fall sein. Jedes dritte Gebäude in der Stadt muss wiederaufgebaut werden. Mit 44 Prozent ist der Zerstörungsgrad in der Innenstadt noch höher. Die Einwohnerzahl der Stadt nähert sich im Sommer 1949 der 150.000er Marke. Etwa jeder zehnte Mülheimer lebt als Flüchtling in der Stadt. Die einen sind aus ihrer Heimat jenseits von Oder und Neiße vertrieben worden. Die anderen wollen nicht länger in einer kommunistischen Diktatur stalinistischer Prägung leben, wie sie sich zwischen Elbe und Oder etabliert.

Schäzungen zum Wiederaufbau von Mülheims Innenstadt variierten zwschen fünf und acht Mio Mark

In dieser Situation beschließt der Rat der Stadt nach einer achtstündigen Debatte am 22. Juli 1949 einen vom damaligen Baudezernenten Paul Essers vorgelegten Generalplan zur Neuordnung der Innenstadt. Die vom Land unterstützten Baukosten schätzt der damals 48-jährige Essers auf fünf Millionen D-Mark. Der FDP-Fraktionschef Wilhelm Dörnhaus kritisiert die Vorlage vor allem aus finanzpolitischen Gründen und sieht die Kosten eher bei acht Millionen D-Mark.

„Die Ablehnung des Plans zur Neuordnung der Innenstadt würde weiter alles im Unklaren lassen. Damit würden wir eine größere Verantwortung auf uns laden, als wenn wir dem Plan zustimmen. Andere Städte, die ihre Neuordnung bereits durchgeführt haben, haben schon vom Land finanzielle Zuweisungen bekommen“, appelliert hingegen der damals 58-jährige Oberbürgermeister Heinrich Thöne (SPD) vor der Abstimmung an die 16 SPD,- 12 CDU,- 6 FDP- und 3 KPD-Stadtverordneten. SPD und KPD unterstützen Essers Pläne. Doch innerhalb der CDU und der FDP gibt es Kritik, zumal sich Christ- und Freidemokraten nicht mit ihrem Vorschlag durchsetzen können, zwischen der unteren Schloßstraße und der Schloßbrücke eine Fußgängerpassage einzurichten.

Zwischen 1946 und 1965 werden in Mülheim mehr als 23.000 neue Wohnungen gebaut

Großes Thema der damaligen Zeit ist die Wohnungsnot. OB Thöne versichert: „Die Festsetzung der Planung wird den Wohnungsbau nicht verhindern. Es ist in Mülheim noch genug Raum vorhanden, um die Anlieger der jetzt neu geplanten Straßen zu entschädigen. Ein angemessener Grundstückstausch wird auch weiter das oberste Gesetz bleiben.“ Zwischen 1946 und 1965 werden in Mülheim mehr als 23.000 neue Wohnungen gebaut. Zu den prominenten Mülheimer Wiederaufbauprojekten gehören auch das 1956 wiederhergestellte Rathaus, die 1957 wiedereröffnete Stadthalle und die 1958 wiedereingeweihte Petrikirche.

Ein Nachkriegsblick auf den Berliner Platz, vor dem heute die neue Leineweberstraße verläuft.
Ein Nachkriegsblick auf den Berliner Platz, vor dem heute die neue Leineweberstraße verläuft. © Stadtarchiv Mülheim

Am Tag nach der Ratsentscheidung berichtet diese Redaktion, dass zahlreiche Straßen in der Stadt verbreitert und in ihren Fluchtlinien verändert werden sollen. Hervorgehoben wird, dass die Schloßstraße die zentrale Einkaufsstraße Mülheims bleiben soll. Außerdem weist die lokale Presse darauf hin, dass die Freilegung der Durchbruchstraße, der Bachstraße, der Teinerstraße, der Eppinghofer und der Mellinghofer Straße 2,7 Millionen der von Essers veranschlagten 5 Millionen verschlingen werde.

Leineweberstraße steht für den Beginn der automobilisierten Stadtgesellschaft

Mit der „Durchbruchstraße“ ist die 1955 als Ost-West-Achse für den Verkehr freigegebene Leineweberstraße gemeint. Sie hat mit ihrer namensgleichen kleinen Vorgängerin nichts mehr zu tun. Sie steht für den Beginn der automobilisierten Stadtgesellschaft, für das Aufbrechen überkommener Siedlungsstrukturen und die Trennung zwischen der Altstadt auf dem Kirchenhügel sowie der „neuen“ Innenstadt rund um Rathausmarkt und Schloßstraße.

Der damalige Mülheimer Baudezernent Paul Essers.
Der damalige Mülheimer Baudezernent Paul Essers. © Stadtarchiv Mülheim

Paul Essers, nach dem seit 1967 eine Straße in der Stadtmitte benannt ist, begründet seine Neuordnungspläne mit einem zunehmenden Mobilitätsbedürfnis der Bevölkerung. Er spricht von 60.000 Fahrzeugen, die bei einer 24-stündigen Verkehrszählung in Mülheim registriert worden seien. Essers stellt fest: „Die vorhandenen Straßenzüge reichen in ihrer Führung, Anlage und Breite nicht aus, um dem Verkehrsbedürfnis Rechnung zu tragen. Bei der Planung des neuen Straßenzuges zwischen Schlossbrücke und Essener Straße hat die Zerstörung des Krieges dem Planer einen Weg gezeigt, die als vorbildlich erscheint und die auch von den Sachverständigen für richtig gehalten wurde.“

1949 befördern die Busse und Bahnen der Mülheimer Verkehrsbetriebe fast 25 Millionen Fahrgäste

1949 befördern die Busse und Bahnen der Mülheimer Verkehrsbetriebe fast 25 Millionen Fahrgäste (hier die untere Schloßstraße zu jener Zeit). Erst 1302 Personenkraftwagen sind damals in der Stadt registriert.
1949 befördern die Busse und Bahnen der Mülheimer Verkehrsbetriebe fast 25 Millionen Fahrgäste (hier die untere Schloßstraße zu jener Zeit). Erst 1302 Personenkraftwagen sind damals in der Stadt registriert. © Stadtarchiv Mülheim

Dem zunehmenden Mobilitätsbedürfnis der Bürgerschaft tragen die Stadtverordneten am 22. Juli 1949 auch damit Rechnung, dass sie die Einrichtung zwei neuer Buslinien beschließen, die die Stadtmitte mit Kettwig und mit Saarn verbinden. 1949 befördern die Busse und Bahnen der Mülheimer Verkehrsbetriebe fast 25 Millionen Fahrgäste. Gleichzeitig sind 1302 Personenkraftwagen in der Stadt registriert. Zum Vergleich: Heute befördert die Ruhrbahn in Mülheim jährlich 21 Millionen Fahrgäste. Gleichzeitig ist die Zahl der in Mülheim zugelassenen Personenkraftwagen auf 94.500 angestiegen.

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