Mülheim. 80 Jahre ist der alliierte Luftangriff her: 531 Mülheimer kamen ums Leben. Zeitzeuge Walter Neuhoff war damals ein Kind und erinnert sich zurück.
Derzeit ist Krieg etwas Alltägliches und in den Medien sehr präsent. Es gibt wenige Menschen in Deutschland, die Krieg noch hautnah erlebt haben. Einer von ihnen ist der 1936 geborene Mülheimer Walter Neuhoff, der bis heute in seinem Elternhaus an der Tersteegenstraße wohnt. Den Luftangriff in der Nacht zum 23. Juni 1943 hat er etwa am eigenen Leibe erlebt. 80 Jahre später hat sich Mitarbeiter Thomas Emons zum Zeitzeugengespräch mit ihm getroffen.
Von Ihrem Lieblingssessel aus schauen Sie auf ein Bild des Kirchenhügels. Was hat es damit auf sich?
Walter Neuhoff: Ich betrachte gerne den Alten Markt mit der Petrikirche und dem ersten Jobs-Brunnen, der dort mit einer Figur des Bildhauers Josef Rübsam 1939 aufgestellt worden ist. Bis zum Luftangriff vom 23. Juni 1943 war die Petrikirche mit ihrem damals windschiefen Turm von einem eng bebauten Häuserkreis umgeben. Das ist für mich ein Stück Kindheit und Heimat, die mit dem Luftangriff vor 80 Jahren untergegangen ist.
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Wo waren Sie während des Luftangriffs?
Im Keller meines Elternhauses, das mein Großvater 1914 an der Tersteegenstraße gebaut hat. Wir waren damals 13 Personen im Keller. Die Tür war mit zwei Verschlusshebeln verstärkt worden. Mein Vater, der Luftschutzwart war, und mein Großvater saßen oben auf der Kellertreppe und wir anderen, unsere Mieter, meine Mutter und ich saßen eng beieinander im Kellergang. Dort gab es eine aufgelassene Wand, um zur Not ins Nachbarhaus zu gelangen, falls wir verschüttet worden wären.
Ist Ihr Elternhaus getroffen worden?
In dieser Nacht hat es uns nicht getroffen, weil unser Haus nicht im Kern der Innenstadt stand. Aber unser Haus wurde beim Luftangriff am 24. Dezember 1944 beschädigt. Doch auch damals hielten sich die Schäden mit Rissen in der Wand und zerbrochenen Fensterscheiben in einem Maß, das uns erlaubte, das Haus weiter zu bewohnen und schnell wieder instand zu setzen.
Waren Sie auf den Luftangriff vorbereitet?
Wir mussten unsere Fenster mit schwarzem Papier zukleben. Das bekam man im Rathaus. Die Verdunklung sollte den Bomber-Piloten die Orientierung bei Nacht erschweren. Aber ab 1944 gab es auch tagsüber Luftangriffe. Seit 1941 heulten regelmäßig die Sirenen, wobei es zwei unterschiedliche Töne gab. Erst kam der Ton für den Voralarm und dann der für den Vollalarm. Wenn der Ton für den Voralarm kam, hatten wir 15 Minuten Zeit, um in den Bunkerstollen unter der Freilichtbühne an der Dimbeck zu laufen. Der befand sich etwa 30 Meter unter dem Steinbruch Rauen. Dort lagen auch Patienten des Evangelischen Krankenhauses. Doch bei Vollalarm konnten wir nur noch in unseren Keller laufen. Das haben wir meistens getan. Meine Eltern haben oft gesagt: „So schlimm wird es schon nicht werden.“ Doch in dieser Nacht hat es die Innenstadt besonders hart getroffen.
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Was haben Sie gesehen, als Sie aus dem Keller auf die Straße kamen?
Alles brannte und alles war kaputt. Viele Straßen waren durch herabgestürzte Gebäudetrümmer unpassierbar. Auch herabgestürzte Oberleitungen lagen auf der Straße. „Pass mir auf den Jungen auf“, hat meine Mutter meinem Vater noch nachgerufen, als wir uns morgens um sieben Uhr auf den Weg zur Vereinsstraße machten. Dort hatte das Elternhaus meiner Mutter gestanden. Jetzt aber lag es, dem Erdboden gleichgemacht, vor uns in Trümmern. Gott sei Dank waren die Eltern meiner Mutter in dieser Nacht nicht zuhause, sondern bei einer Tante in Schlesien. Ich erinnere mich an Menschen, die auf den Bürgersteigen Scherben und Schutt zusammenkehrten und daran, dass vor dem St. Marienhospital auf der Kaiserstraße zugedeckte Leichen lagen. „Gut, dass wir nicht im katholischen Krankenhaus waren. Wir gehen weiter. Da brauchst du gar nicht hinzusehen“, hat mein Vater mir gesagt. Er selbst hat manchmal mit seiner Leica Fotos gemacht, obwohl das damals streng verboten war.
Wie ging das Leben nach dem Luftangriff weiter?
Um 11 Uhr waren wir wieder zuhause an der Tersteegenstraße. Und mittags gab es wieder Licht und Wasser. Nach dem Luftangriff wurden viele Kinder in die Kinderlandverschickung nach Böhmen, Mähren, Baden, Württemberg und Österreich gesteckt. Aber dafür war ich mit sieben Jahren noch zu jung. Für die Kinderlandverschickung musste man mindestens zehn Jahre alt sein. Ich selbst habe damals die Volksschule an der Eduardstraße besucht, in der auch Soldaten einquartiert waren. Wir waren 60 Kinder in meiner Klasse. Manchmal wurden wir auch an der Adolf-Hitler-Volksschule an der Troosstraße oder in Schulräumen am Oppspring und am Flughafen unterrichtet. 1944 wurden die Schulen geschlossen und erst wieder am 1. Oktober 1945 aufgemacht.
>>> 23. Juni 1943
- Der alliierte Luftangriff am 23. Juni 1943 war einer von 160 Luftangriffen, die Mülheim während des Zweiten Weltkrieges trafen. Ab 1.10 Uhr entluden 490 britische Bomber in einem 70 Minuten dauernden Angriff 1600 Tonnen Spreng- und Brandbomben.
- 531 Menschen kamen in dieser Nacht ums Leben. 70 Prozent der Innenstadt wurden zerstört. Auch die industriell geprägten Stadtteil Styrum und Eppinghofen wurden hart getroffen. 7421 Mülheimer verloren während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben.