Mülheim/Essen. Jahrelang soll ein Polizist des PP Essen/Mülheim Gewaltvideos verschickt und Dienstgeheimnisse verraten haben. Die Anklage listet 80 Fälle auf.

Allein die Anklageverlesung dauert fast eine Stunde. Lang ist die Liste der Vorwürfe, die einem Polizisten aus Essen gemacht werden. Seit Donnerstag steht der Mann vor dem Mülheimer Amtsgericht. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren soll der heute 44-jährige G., der in der Leitstelle des Präsidiums Essen/Mülheim gearbeitet hat, privat Gewaltvideos verbreitet und Dienstgeheimnisse verraten haben. Es geht um insgesamt 80 Fälle, im Tatzeitraum von Anfang Mai 2017 bis Ende August 2020.

„Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen“ - hinter diesem sperrigen Begriff aus dem Strafgesetzbuch stehen fünf Fälle, die die Staatsanwaltschaft dem Mann zur Last legt. Über den Messenger-Dienst Whatsapp soll er Bekannten kurze Filmaufnahmen geschickt haben, die Brutales zeigen: Wie einem gefesselten Mann von hinten mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen wird, wie ein anderer von drei Tigern attackiert wird oder wie eine Frau auf offener Straße verprügelt und gedemütigt wird.

Details aus Einsatzprotokollen per Whatsapp verschickt

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Der größere Teil der Anklage umfasst 75 Fälle. Demnach hat der Beamte in den Diensten auf der Leitstelle wohl auch Muße gehabt: Die soll er genutzt haben, um Verwandten und Freunden Dienstgeheimnisse weiterzuleiten - ungefragt oder auf Anfrage. Mehrfach soll unter anderem seine Schwägerin seine Dienste in Anspruch genommen haben. G. habe dann die polizeilichen Abfragesysteme genutzt, um persönliche Daten wie Wohn- und Geburtsort, Alter, Familienstand oder Religionszugehörigkeit herauszufinden und weiter gereicht zu haben. Dabei genügte es wohl, wenn dem Polizisten etwa ein Vorname und eine Handy-Nummer oder ein Kennzeichen eines vermeintlich „Verdächtigen“ oder Unbekannten übermittelt wurde. Halterdaten von Fahrzeugen soll er ebenso weitergegeben haben wie Auskünfte über mögliche Eintragungen in Strafregistern. „Der ist sauber“, hieß es dann. Oder: Obacht!

G. soll außerdem vertrauliche Details aus Einsatzprotokollen der Polizei an Nahestehende in Whatsapp-Gruppen verschickt haben, bei banaleren Sachen wie Einbrüchen, Hausfriedensbruch, Unfällen oder häuslicher Gewalt, aber auch bei spektakuläreren: Die Anklage nennt als Beispiele die Amokfahrt am Kiepenkerl in Münster, die Festnahme des AfD-Politikers Guido Reil in Essen, eine Geiselnahme am Kölner Hauptbahnhof oder die Gruppenvergewaltigung einer gehandicapten Frau durch fünf bulgarisch-stämmige Kinder und Jugendliche in Mülheim. Oft verschickte er seine Nachrichten mit der Bitte, die Informationen vertraulich zu behandeln. Ob der gefolgt wurde, ist unklar.

Mutmaßlich rechtes Netzwerk bei der Polizei Essen/Mülheim

Der Fall G. ist quasi ein „Beifang“ eines komplexen Ermittlungsverfahrens, das Polizei und Staatsanwaltschaft schon seit mehr als dreieinhalb Jahren beschäftigt: das Auffliegen eines mutmaßlich rechten Netzwerks bei der Polizei Essen/Mülheim im September 2020. Wegen des Teilens etwa von Hitler-Bildchen und geschmackloser extremistischer Witze bei Whatsapp konnten die Beamten nicht belangt werden, weil das innerhalb geschlossener Gruppen bis heute nicht strafbar ist. Dafür stießen die Ermittler bei der Auswertung diverser sichergestellter Datenträger wie Handys aber auf andere Delikte quer durch das Strafgesetzbuch - wie auch bei G., der verheiratet ist und zwei Kinder hat. Der Essener ist bislang der einzige, der in dem Komplex vor einem Gericht angeklagt worden ist. Alle anderen Verfahren gegen die beteiligten Polizisten, insgesamt gab es 26 konkret Verdächtige, endeten mit dem Erlass von Strafbefehlen oder wurden eingestellt.

Vor dem Amtsgericht in Mülheim wird gegen den Polizisten aus Essen verhandelt. (Archiv-Bild)
Vor dem Amtsgericht in Mülheim wird gegen den Polizisten aus Essen verhandelt. (Archiv-Bild) © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Offen bleibt am Donnerstag, was G. antrieb. Es gibt ein Rechtsgespräch hinter verschlossenen Türen mit den Prozessbeteiligten im Anschluss an die Anklageverlesung. Danach ist klar: Einen „Deal“ gibt es erst einmal nicht, zu weit auseinander liegen die Vorstellungen. Die Verteidigung hält eine Freiheitsstrafe von unter einem Jahr für möglich, das wäre die Grenze, bis zu der der Polizist noch versuchen könnte, seinen Job zu behalten. Für die Staatsanwaltschaft ist das angesichts der Vorwürfe undenkbar. Verjährt ist von den Vorwürfen offenbar noch nichts, das bestätigt ein Blick in die Strafgesetzbücher. Dem Polizisten könnte eine weit höhere Strafe drohen. Er ist vor dem Schöffengericht angeklagt. Das könnte auch eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Zwei weitere Termine hat das Amtsgericht Mülheim nun sicherheitshalber angesetzt. G. soll beim nächsten die Möglichkeit bekommen, seine Motivation zu erläutern. Denkbar ist zudem, dass in der öffentlichen Sitzung auch die Gewaltvideos, die er verbreitet haben soll, gezeigt werden.

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