Essen-Leithe. Emotionen, Argumente, konstruktive Vorschläge: Beim Gespräch über Stadtentwicklung liegen die Positionen zur Essener Siedlung weit auseinander.
Die Diskussion um die Siedlung Litterode in Essen-Leithe geht weiter: Die Linke hatte ins Forum Kunst und Architektur am Kopstadtplatz eingeladen: Die Veranstaltung „Nachhaltige Stadtentwicklung - sozialer Zusammenhalt“ war sehr gut besucht – aus aktuellem Anlass.
Die städtische Wohnungsgesellschaft Allbau will an der Litterode neu bauen und dafür alte „Zechenhäuser“ abreißen. Die haben einfachste Standards und kleine Wohnflächen, gegen heutige Trends. Doch die Häuser sind das Zuhause der Menschen, die dort teils seit Jahrzehnten leben und jetzt für den Erhalt kämpfen.
Die Essener Siedlung ist seit Monaten in der Diskussion
Für den Allbau ist es eine klare Sache: Abriss und Neubau statt wirtschaftlich nicht darstellbarer Sanierung. 2022 hatte man das Immobilienpaket von der Stadt gekauft und Anfang 2024 mitgeteilt, dass an der Litterode rund 26 Millionen Euro investiert werden sollen: Bis 2028 sollen 60 Einheiten geförderter Wohnraum entstehen, plus ein gutes Dutzend Einfamilienhäuser zum Verkauf.
Manche Mieter sind bereits ausgezogen, andere aber wollen unbedingt bleiben und holen sich Hilfe. Selbst Klagen vor Gericht stehen im Raum, was das Projekt erheblich verzögern könnte. Linken-Kreissprecher Wolfgang Freye moderiert den Abend und mahnt: „Wir wollen miteinander reden.“ Und mögliche kommunikative Versäumnisse und Missverständnisse ausräumen.
Allbau-Geschäftsführer Dirk Miklikowski sagt, wenn jemand verantwortlich mit Stadtimmobilien umgehe, dann doch der Allbau: „Ein Gleichklang aus Erhalt, Modernisierung, Abriss und Neubau.“ Man modernisiere pro Jahr 300 Wohneinheiten und baue 100 neue. Außerdem, so sehr er die Betroffenheit verstehe, hier gehe es um zehn Haushalte. Zugegeben, da müssten Menschen ihre Heimat aufgeben: „Aber der Mehrwert für die Stadtgesellschaft ist größer.“
In Essen werden 9000 neue Wohnungen benötigt
Er sehe den Auftrag, in dieser Stadt 9000 dringend benötigte neue Wohnungen zu schaffen, möglichst preiswerten Wohnraum. „Die Stadt als unser Gesellschafter hat genau diese Entwicklung gewollt. Solange wir keine abweichende politische Beschlusslage haben, machen wir so weiter.“
Hevres Becker möchte genau diesen „abweichenden“ politischen Beschluss herbeiführen, und zwar rasch. An der Litterode gebe es eine ganz besondere nachbarschaftliche Gemeinschaft, so die Sprecherin der Bewohner. Ein Wert, der verloren zu gehen drohe: „Wir sind noch zehn Familien, die dort wohnen. Wir können gar nicht ausziehen, weil wir nichts anderes finden.“
Professor Tim Rieniets lehrt an der Universität Hannover Stadt- und Raumentwicklung, ist also fachlich, aber auch als Essener Bürger, an der Litterode interessiert: „Der Allbau macht gute Projekte, aber dieses ist nicht gut für Essen.“ Im Sinne einer „Umbaukultur“ legt der Diplom-Ingenieur alternative Pläne vor, die in der Gesamtbilanz klimafreundlicher seien als die Allbau-Pläne.
Einerseits würde Rieniets viel Wohnraum schaffen mit einem großen Wohnblock, anderseits aber einige Bestandshäuser energetisch aufwerten und mit Anbauten in Modulbauweise erweitern: „Ich habe noch nie Häuser gesehen, die so einfach zu sanieren wären.“ Peter Brdenk vom Bund Deutscher Architekten weist darauf hin, dass die Gebäude durch „eine beeindruckende Einfachheit“ bestechen, in der Bautradition der 1930er Jahre: „Die Häuser sind sehr einfach strukturiert. Da hat der Kollege sich was gedacht.“
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Immerhin kann Hevres Becker nun „ganz offiziell“ der Stadt alternative Planungen für die Litterode übergeben. Martin Harter, Planungsdezernent der Stadt Essen, verspricht, sich das mit seinem Team anzuschauen und in Folge mit Allbau und Politik zu reden. Aber wirtschaftliche Kriterien müssten beachtet werden, so Harter: „Wir möchten nicht, dass der Allbau in wirtschaftliche Schieflage gerät.“ Er habe sich „die Akte“ geben lassen, gekommen seien „elf dicke Leitz-Ordner“. Harter gibt zu bedenken: „Der Zug ist schon aus dem Bahnhof gefahren. So ehrlich müssen wir uns machen. Das ist seit 2022 beschlossene Sache und macht es so schwierig an dieser Stelle.“
Beim Diskussionsabend spricht Dirk Miklikowski die Kosten an, den Bestand des Allbaus bis 2040 klimaneutral zu machen. Der Geschäftsführer: „Wir reden von über einer Milliarde Euro.“ An der Litterode sei das im Altbestand nicht wirtschaftlich darstellbar: „Die Mieter wohnen für einen Appel und ein Ei dort.“ Was Anwohner Dirk Bolduan aufbrausen lässt. Die Mieten seien in der Tat niedrig, dafür aber die Energiekosten sehr hoch.
Die Mieten in der Essener Siedlung sind derzeit vergleichsweise niedrig
Was Miklikowski kontert: „Es ist doch unsinnig, Energie durch die Wand zu blasen.“ Bolduan wirft ein: „Ich habe von meinem Geld die ganze Elektrik neu gemacht und die Türen. Da war Feuchtigkeit im Haus, wir haben alles fertig gemacht. Die Stadt hat nichts gemacht.“ Er argwöhnt: „Nicht die Häuser sind das Problem. Wir Bewohner sind das Problem.“
Vagin Omar ist in der Litterode aufgewachsen und schwärmt: „Die Kinder können ungestört spielen und man kümmert sich umeinander.“ Er selbst habe in Kray ein Haus gekauft, verbringe aber weiterhin so viel Zeit wie möglich bei seiner Familie, bei Nachbarn, die Freunde wurden. Die jetzt ausgezogen seien, aus „psychischen Gründen“ gegangen: „Hier wird eine Gemeinschaft auseinander gerissen.“
Ihm wolle nicht einleuchten, warum nicht woanders gebaut werde. Beispiele: Die verlassenen Schulen an Bonifaciusstraße und Lentorfstraße oder Kirchen, die nicht mehr benötigt würden. Direkt neben der Litterode wurde 2022 die katholische Kirche St. Joseph profaniert, dort gebe es ein gut 4600 m² großes Gelände.
Linken-Ratsherr Jürgen Zierus ärgert sich: „Die Litterode hat Menschen aus der Obdachlosigkeit in eine Position als ordentliche Mieter gebracht. Dieses sozialpädagogische Erfolgsprojekt soll jetzt abgeräumt werden.“ Die Litterode sei ein Fleck auf der weißen Weste des Allbau. Daher seine Einladung: „Machen wir doch einen Wettbewerb. Sie machen ihr Ding und lassen die Menschen vor Ort ihres machen.“ Deren Sprecherin Hevres Becker nickt: „Wir kennen das gar nicht anders, als dass wir alles auf eigene Faust sanieren.“
Obwohl sehr unterschiedliche Standpunkte zunächst unversöhnlich scheinen, bringt der Austausch neben höchst emotionalen Statements der Betroffenen und auch von Dirk Miklikowski doch hervor, dass ein Kompromiss immer noch möglich sein könnte, trotz des späten Zeitpunkts im Verfahren. Zumindest nicht völlig unvorstellbar nach diesem Abend, der gerne Vorbild sein dürfte für mehr solcher konstruktiv ausgerichteter Bürgerversammlungen.
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