Essen-Leithe. Abriss in Essen: Während einzelne Mieter die Siedlung Litterode verlassen, kämpfen andere weiter und setzen auf Termin beim Oberbürgermeister.
Unbeschwert: So sei das Leben in der Siedlung Litterode stets gewesen, sagt Sabrina Jostes (44), der jetzt umso schwerer ums Herz wird. 18 Jahre lang hat die dreifache Mutter in Leithe gelebt. Es ist eine ehemalige Obdachlosensiedlung, kleine Häuser, die die früheren Bewohner einst in den 1980ern selbst sanierten und damals retteten. Jetzt droht erneut der Abriss, Neubauten sollen entstehen. Die Kündigungen halten die Mieter längst in Händen und kämpfen doch unermüdlich weiter. Sabrina Jostes indes wird ihre Litterode verlassen - zu hoch sei die emotionale Belastung.
Sabrina Jostes ist vor 18 Jahren in die Litterode gezogen. Wegen der Liebe. Der Vater ihrer Kinder lebt inzwischen in einem anderen Haus in der Siedlung, nachdem sie sich getrennt haben. Die Eltern haben bis zu ihrem Tod in einem der Häuser gewohnt, die nun schon lange leer stehen. So wie auch die frühere Kita. Jetzt sollen alle Gebäude abgerissen werden. Nachdem die Stadt diese an das städtische Wohnungsunternehmen Allbau verkauft hat, wurden rasch die Pläne vorgestellt.
Gebaut werden sollen 73 Einheiten - 60 Wohnungen und 13 Einfamilienhäuser
73 Einheiten sollen es demnach werden, 60 sozial geförderte Mietwohnungen, 13 Einfamilienhäuser zum Verkauf. Dringend benötigter Wohnraum, klimaneutral und modern, argumentiert der Allbau. Schon wirtschaftlich sieht er zudem keine Möglichkeit, die alten Gebäude zu sanieren, in denen zuletzt noch 19 Parteien lebten. 60 Menschen betraf die Kündigung. Der Allbau bietet seitdem alternativen Mietraum, Hilfe beim Umzug und mitunter Prämien (5000 Euro bei einer Räumung bis 31. Oktober, jeder Monat früher 1000 Euro zusätzlich) an.
Einzelne Parteien sind bereits ausgezogen. Tränenreiche und schmerzhafte Abschiede. So war es bei Herbert Wasser und seiner pflegebedürftigen Frau Brigitte, die im Rollstuhl sitzt. Bis dahin haben die beiden gleich neben ihrem Sohn gelebt, jetzt ist zumindest ihr Enkel mit ihnen ausgezogen. Nur ein kleiner Lichtblick, da ihr Zusammenleben mit all den anderen auseinandergebrochen ist. Herbert Wasser hat das Zuhause verlassen müssen, für das er einst tatkräftig angepackt hat. Er ist einer der letzten, die Dächer gedeckt und Keller ausgeschachtet haben, um ihre Siedlung damals zu sanieren.
Ihr Leben in der Litterode in Essen-Leithe spielt sich immer schon auch draußen ab
Ihre Kinder waren in den 1980ern dabei, die nun mit ihrem Nachwuchs ebenfalls in der Siedlung leben. Wie Martin Wasser (50) oder Dirk Bolduan (55). Beim Sommerfest der Litterode stehen die Männer am Grill, andere haben Glücksrad, Dosenwerfen, Bogenschießen und die Tombola organisiert, haben Sitzmöglichkeiten unter den Zelten aufgestellt, die Herbert Wasser einst besorgt hat für ihre Straßenfeste. Bei diesem hat er den Eismann gerade auf einen Euro pro Kugel heruntergehandelt.
Ihr Leben in der Litterode spielt sich immer schon auch draußen ab, mit den Nachbarn, die zur Familie gehören oder Freunde sind. Getrübt wird das Sommerfest allerdings durch den ernsten Hintergrund, die vielen Schilder in den Gärten, auf denen sie ihre Sorgen und Nöte notiert haben. „Die Litterode hat Geschichte, macht sie nicht zunichte“, „Unsere bewohnten Häuser sind nicht marode“, „Kufen, wir müssen reden“, „Gemeinsam gegen Verdrängung“ oder „Wir wollen unser Zuhause behalten“.
Einzelne Politiker sind gekommen und eine ganze Gruppe Erzieher, die die Kinder hier früher in der Kita betreut haben. Es ist ein großes Wiedersehen und gleichzeitig eine enorme Traurigkeit. „So schön und so bitter“, fasst Erzieherin Barbara Schneider zusammen. Als bedrückend beschreibt Ralf Wagner die Atmosphäre, die über dem Fest schwebt. „Uns war damals nicht klar, was passiert“, sagt der Erzieher, der zwölf Jahre in der inzwischen lange geschlossenen Einrichtung gearbeitet hat.
Die Kita in dem dafür umgebauten Wohnhaus sei stets eine Art Rathaus gewesen. „Es bot eine Anlaufstelle auch für Eltern“, sagt Tanja Schoppe, damalige stellvertretende Leiterin. Hand in Hand sei alles gelaufen, ob bei größeren Sorgen oder den kleinen Dingen, wenn sie etwa gemeinsam den Sandkasten gesäubert haben. „Bernhard ist schuld, dass ich Abitur gemacht habe“, sagt Bewohnerin Hevres Becker schmunzelnd und immer noch dankbar. Sie lebt heute mit Mann und zwei Kindern in der Litterode. Ihre Eltern wohnen in der Siedlung, ihre Schwester mit ihrer Familie auch.
„Wir können unser Zuhause nicht aufgeben“, sagt Hevres Becker entschlossen und verzweifelt. Wie manch anderer hier ist sie aber auch wütend und fassungslos darüber, wie Stadt und Politik mit ihnen umgehen. Mancher habe über das Schicksal abgestimmt, ohne jemals einen Fuß in die Wohnstraßen gesetzt zu haben. Die Litterode sei als Problemimmobilie eingestuft gewesen, als der Allbau ihnen noch im Vorjahr vermittelte, es habe lediglich einen Eigentümerwechsel gegeben. Was zu dieser Einschätzung geführt habe, das wissen sie immer noch nicht. Mit ihren Fragen fühlen sie sich alleingelassen, mitunter arrogant abgewimmelt.
Ihre jüngste Protestaktion führte sie vor das Krayer Rathaus und in die Sitzung der Bezirksvertretung. Rederecht hätten sie nicht gehabt. „Wir haben uns gefühlt, als ob wir die Politik nerven“, sagt Hevres Becker ernüchtert. Der Allbau habe dann auch den Bezirkspolitikern seine Neubaupläne ausführlich vorgestellt, habe auf Einwände und Kritik von Bauexperten reagiert, da das Neubauprojekt doch eine Nutzungsdauer von rund 100 Jahren haben werde und man neben sozialpolitischen auch wohnungspolitische Aspekte beachten müsse, hieß es etwa.
Protestaktion vor dem Krayer Rathaus
Professor Tim Rieniets von der Leibniz-Universität in Hannover hatte zuvor erklärt, wie klimaschädlich Neubauten mit Blick auf die Belastung (CO2) beim Abriss und Bau seien. Zudem hat der Diplom-Ingenieur aus Essen auf das vorbildhafte Zusammenleben in der Gemeinschaft verwiesen, die auch deutlich weniger Quadratmeter pro Kopf in Anspruch nimmt als der Durchschnitt. Eine Idee lautete, die bereits leerstehenden Häuser abzureißen, die bewohnten zu belassen - weniger Einnahmen stünden so auch geringeren Ausgaben gegenüber. Tim Rieneits werde mit einem Kollegen wiederkommen, kündigt Hevres Becker an. Dann stünden nicht nur Messungen an, sie wollen auch einen Blick auf die benachbarte Kirche, den Pfarrsaal und das ehemalige Pfarrhaus werfen.
„Diese Gebäude stehen ebenfalls seit Jahren leer. Da stellt sich uns die Frage, weshalb Allbau bewohnte Häuser abreißen möchte und Menschen vertreibt, obwohl direkt nebenan Gebäude seit Jahren leer stehen“, formuliert die Bewohnerin und bereitet sich gleichzeitig mit einigen Nachbarn auf ein Treffen vor, auf das sie jetzt große Hoffnungen setzt. Oberbürgermeister Thomas Kufen hat sie eingeladen. Sie hoffen vor allem auch, dass es nicht so ernüchternd sein werde wie ihr letztes Zusammentreffen. Da habe das Stadtoberhaupt den Allbau und das neue Wohnprojekt sehr gelobt.
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Die alten Mieter ließ das enttäuscht zurück. „Wir verlieren doch dafür unser Zuhause“, sagt Hevres Becker. Was dieses ausmacht, das hallte noch beim Sommerfest durch die Siedlung, als sie durchs Megaphon zu den Gästen sprach: „Was uns verbindet, ist unsere Gemeinschaft. Jetzt aber stehen wir vor einer Bedrohung, dem Abriss unserer geliebten Siedlung.“ Das sei ein Angriff auf ihre Häuser und ihr Leben. Daher sei es wichtig, daran zu erinnern, dass die Menschen bereits vor 40 Jahren um ihre Litterode gekämpft hätten. Damals mit Erfolg: „Diese Geschichte macht uns Hoffnung und Mut“, sagt Hevres Becker. Diese Geschichte ihrer Eltern und Großeltern dürfe nicht vergessen werden.
Die Geschichte von Sabrina Jostes in der Litterode endet am 1. November. Dann zieht sie aus. Als sie vor fast zwei Jahrzehnten hier ankam, hat sie sich nicht einen Augenblick als Eindringling gefühlt. Nach und nach lernte sie die Gemeinschaft kennen und schätzen, war willkommen. Die Kinder spielten in den Gärten und vor den Häusern, auch Nachbarn hatten stets ein Auge auf sie. Darunter der Vater von Dirk Bolduan, denn alle nur Opa Ötsch genannt hätten. Eine schöne Erinnerung, die sie mitnehmen wird.
„Wenn die Siedlung aber verschwunden sein wird, wird es für meine Enkel keine Erinnerung mehr geben, die ich ihnen zeigen könnte, keinen Baum, auf den ihr Opa geklettert ist.“ Selbst wenn der Allbau ihnen eine Wohnung in den Neubauten angeboten hätte, das wäre niemals ein Trost gewesen. „Das ist dann nicht mehr mein Zuhause“, sagt Sabrina Jostes, das sei unbeschwert gewesen, jetzt verlieren sie alles. Sie geht, weil sie nicht sehen möchte, wenn die Bagger kommen. „Hier hat mein Leben angefangen, ich kann nicht mit ansehen, wie es abgerissen wird“, sagt sie traurig. „Das würde ich nicht ertragen.“
Ihr Sohn zieht indes bei seinem Vater wenige Häuser weiter ein. Sie wollen nicht aufgeben. In Gedanken wird Sabrina Jostes bei ihnen sein, mit ihnen kämpfen. Sie kann gar nicht anders. Ihr größter Wunsch steht auf ihrem Shirt: „Rettet die Litterode“. Stattdessen wird sie wohl bald Kartons und Koffer packen. In ihrer neuen Wohnung im Isinger Feld wird die 44-Jährige dann auf den Balkon von Herbert und Brigitte Wasser blicken. Sie wohnen dann gegenüber - so wie zuvor in der Litterode. „Das wird ein Stück Heimat sein“, sagt Sabrina Jostes. „Mein Herz aber bleibt hier.“
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