Essen-Leithe. Abriss, Neubau oder Sanierung: Auch Architekten setzen sich für die vom Abriss bedrohte Siedlung in Essen ein. Bewohner planen eine Kundgebung.

In der Angst um ihr Zuhause kämpfen sie unermüdlich weiter: Die Bewohner der Siedlung Litterode haben jüngst bei einem Sommerfest für Aufmerksamkeit gesorgt, nun wollen sie ihren Protest vor das Krayer Rathaus tragen. Sie wehren sich gegen den geplanten Abriss ihrer Siedlung, die ihre Großväter und Väter einst vor genau diesem Schicksal bewahrt haben - aus der Obdachlosenunterkunft wurden Mietraum und Heimat. Damals Vorzeigeprojekt, heute ein Mehrgenerationen-Wohnen. Vorbildlich, fand zuletzt Bauexperte Tim Rieniets und kritisierte die Neubaupläne. Jetzt melden sich auch Architekten (Architects for Future) und Politiker zu Wort.

„Der Allbau hat den Abriss der Häuser in der Litterode vor, weil er sie wirtschaftlich nicht für sanierbar hält - Tim Rieniets hat bei seinen Vorschlägen vor allem die Nachhaltigkeit betrachtet“, sagt Linken-Politiker Wolfgang Freye, Mitglied im Planungsausschuss zu dem Vorstoß des Professors von der Leibniz Universität Hannover, der sich mit Stadt- und Raumentwicklung befasst. Geklärt werden müsse, ob und wie beides zusammengebracht werden könne und ob eine Sanierung der Häuser auch mit Fördermitteln des Landes möglich sei. „Eine solche Klärung muss schnell geschehen, denn der Allbau bereitet den Abriss der Häuser vor.“

Bewohner der Siedlung Litterode haben Angst um ihr Zuhause.
Bewohner der Siedlung Litterode haben Angst um ihr Zuhause. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Bauexperte machte Alternativvorschläge zu Plänen des Allbaus

Während der Allbau auf dem Areal in Leithe 73 „moderne“ Wohneinheiten (60 öffentlich geförderte Mietwohnungen und 13 Einfamilienhäuser zum Verkauf) plant und mit hohem Bedarf an Wohnraum argumentiert, weist Rieniets etwa auf verschiedene Klimaaspekte (Emissionen beim Abriss, geringe Wohnfläche pro Kopf, schlechte Klimabilanz von Einfamilienhäusern) und soziale Kriterien (Gemeinschaft) hin. Diese würden heute bei solchen Vorhaben gewünscht und berücksichtigt. Er machte Alternativvorschläge, die sich die Ratsfraktion der Linken zumindest ansehen möchte.

Beim Sommerfest machten Bewohner der Litterode auch auf die derzeitige Situation aufmerksam. Dirk Bolduan in einem der selbst gestalteten Shirts am Grill: „Rettet die Litterode“ steht darauf.
Beim Sommerfest machten Bewohner der Litterode auch auf die derzeitige Situation aufmerksam. Dirk Bolduan in einem der selbst gestalteten Shirts am Grill: „Rettet die Litterode“ steht darauf. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Bislang fühlten sich die Bewohner in der Litterode vor allem von den großen Parteien herablassend behandelt, von der Stadt im Stich gelassen. Ihr gehörte die Siedlung viele Jahrzehnte, die in Teilen schon vor langer Zeit leer gezogen wurde und seitdem verfällt. Schließlich stufte der Rat die Litterode als „Problemimmobilie“ ein, die Mieter erfuhren die Kriterien nicht. Vielmehr wissen sie heute, dass viele der Politiker nie vor Ort gewesen sind. Schließlich übernahm der Allbau, versendete zunächst Briefe, alles bleibe beim Alten („ein Fehler“). Stattdessen folgten auf eine Infoveranstaltung die Kündigungen - für alle.

Ein Schock. Statt Resignation machten sich bei den Bewohnern Angst, Sorgen, aber auch Unverständnis, Widerstand und nun auch Hoffnung breit - auch wenn einige bereits ausgezogen sind. Für interessant hält auch die Linke-Ratsfraktion den Vorstoß des Professors. „Gerade mit Blick auf die soziale und ökologische Nachhaltigkeit halten wir die Argumente für überzeugend genug, um darüber noch einmal zu reden. Wir werden uns die Vorschläge jedenfalls gerne ansehen und anhören und dazu Kontakt mit ihm aufnehmen“, versichert die Fraktionsvorsitzende Heike Kretschmer.

Bereits einmal trugen die Mieter des Allbaus ihren Protest auf die Straße vor die Zentrale ihres Vermieters.
Bereits einmal trugen die Mieter des Allbaus ihren Protest auf die Straße vor die Zentrale ihres Vermieters. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Es müsse natürlich darum gehen, ob und wie das Bauvorhaben des Allbaus, das den Bau von rund 60 geförderten Sozialwohnungen vorsieht, mit dem Erhalt der noch bewohnten Häuser vereinbar sein könnte. Rieniets hatte etwa vorgeschlagen, auf einem Teil des Areals neu zu bauen, wo Häuser ohnehin leer stehen, und die bewohnten Häuser zu erhalten. Mit dem Verbleib der Bewohner und Bewohnerinnen der Siedlung in den kleinen Häusern vor Ort würde zudem die Geschichte und der Charakter der Siedlung erhalten bleiben, pflichten die Linken bei.

Offener Brief der Klima-Architekten an Allbau, Stadt und Oberbürgermeister

Bereits zuvor haben sich Mitglieder der Gruppe Architects for Future, die sich fürs Klima einsetzen, in der Litterode umgeschaut und haben einen offenen Brief an den Allbau, die Stadt und alle Parteien im Rat gerichtet. Der Bausektor sei maßgeblich am weltweiten CO2-Ausstoß beteiligt: Daher seien Abriss und Neubau der Wohnhäuser an der Litterode kein Schritt in die richtige Richtung, formulierten sie.

Auch sie kritisieren, dass die Energie, die für Abriss und Neubau der Gebäude aufgebracht werden müsste, nicht berücksichtigt worden sei. Es ist ebenso nicht nachvollziehbar, dass Gebäude entstehen sollen, die im Betrieb weiterhin CO2 verursachten und hier nicht einmal der Betrieb klimaneutral sei. Berechnungen würden zudem nicht zur Verfügung gestellt, es fehle jegliche Transparenz.

David Lucas ist Mitglied der Gruppe „Architects for Future“ und hat sich ein Bild von der Siedlung Litterode gemacht.
David Lucas ist Mitglied der Gruppe „Architects for Future“ und hat sich ein Bild von der Siedlung Litterode gemacht. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Sie sind überzeugt: „Die Energie, die für Abriss und Neubau benötigt würde, kann im Betrieb des Gebäudes nicht wieder eingespart werden.“ Mit dieser Energiemenge könnten die alten Gebäude mehrere Jahrzehnte lang beheizt werden. „Es mag sein, dass Abriss und Neubau momentan billiger erscheinen, als eine gleichwertige Sanierung der Häuser. Das liegt dann an den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die die Firmen der Bauindustrie nicht ausreichend an den durch sie verursachten Umwelt- und Klimaschäden beteiligen“, steht in dem Schreiben, in dem die Verfasser auch die Idee der Nachverdichtung ins Spiel bringen.

„Der Allbau plant zudem, die Häuser in klassischer Massivbauweise zu errichten“, sagt Architekt David Lucas und gibt zu bedenken, dass schon die Produktion von Ziegeln und Beton viel CO2 verursache. Ein Holzbau etwa wäre viel ökologischer, wenn es Bauherren ums Klima gehe. Der Allbau aber halte sich an den gesetzlichen Mindeststandard. „Sie machen nur das, was sie machen müssen. Kein Stück mehr, sie führen aber das Klima an.“ Die Architekten fordern stattdessen eine maßvolle und vorausschauende Sanierung des Gebäudebestandes.

Bewohnerin Yvonne Bolduan (2.v.l.) mit dem Besuch, Mitglieder von „Architects for Future“ in Essen-Leithe.
Bewohnerin Yvonne Bolduan (2.v.l.) mit dem Besuch, Mitglieder von „Architects for Future“ in Essen-Leithe. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Mit Blick auf Kosten fragten sie sich zudem, warum so viele Häuser so lange leer stünden. „Der Leerstand hätte doch vermietet werden können“, sagt der Architekt. Man verschenke stattdessen seit Jahren viel Geld, argumentiere gleichzeitig mit Wirtschaftlichkeit.

Allbau-Chef Dirk Miklikowski sieht sich zwar nicht zu einer Stellungnahme gegenüber der Gruppe Architects for Future verpflichtet. Der Allbau habe jedoch seine Mieter mehrfach angeschrieben, zuletzt auch als Reaktion auf diesen offenen Brief.

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Die Entscheidung, die Mietverhältnisse zu kündigen, basiere nicht ausschließlich auf den von den Architekten thematisierten Klimaschutzzielen, schrieb der Eigentümer. Die Mietverhältnisse würden ihn vielmehr an der „angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks hindern“. Denn neben den Klimaschutzzielen seien auch wohnungspolitische Ziele und die Wirtschaftlichkeit der Investitionen von großer Bedeutung, heißt es mit Blick auf den Bedarf an „modernen und bezahlbaren Wohnungen“. Die geplante Quartiersentwicklung an der Litterode trage dazu bei, Klimaschutzziele sowie wohnungspolitische Ziele zu erreichen.

Beim Sommerfest informierten die Bewohner der Litterode über den Kampf zum Erhalt ihrer Häuser, zahlreiche Besucher kamen.
Beim Sommerfest informierten die Bewohner der Litterode über den Kampf zum Erhalt ihrer Häuser, zahlreiche Besucher kamen. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Mit Blick auf das gesamte Vorhaben gibt der Allbau-Chef zu bedenken, „dass wir an gleicher Stelle zukünftig 73 statt bisher 20 Familien (inklusive der leerstehenden Objekte 36) ein Zuhause zur Verfügung stellen können“. Die angesprochene Nachverdichtung wäre in vergleichbarem Umfang nicht realisierbar - schon wegen der rechtlichen und wirtschaftlichen Vorgaben. Zudem bliebe die erforderliche Modernisierung der Bestandsgebäude weiterhin unwirtschaftlich.

Kundgebung der Litterode-Bewohner vor dem Rathaus in Essen-Kray geplant

Gleichwohl respektiere der Allbau das leidenschaftliche Engagement seiner Mieter wie der Gruppe der Architekten. Beide fokussierten sich jedoch mit ihren Argumenten lediglich auf einen Teilbereich. Sie ignorierten die komplexen Rahmenbedingungen und aufs Ganze geschaut: die überwiegend positiven Eigenschaften dieses Vorhabens.

Wenn sich dann Familien mit mehr Geld dort ein Einfamilienhaus leisten könnten, wo sie jetzt mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt, dann kann diesem Vorhaben nicht nur die langjährige Bewohnerin Hevres Becker tatsächlich nichts Positives abgewinnen. Denn das setzt eines voraus: Sie müssten zunächst verdrängt werden. „Wir verlieren dafür unser Zuhause.“

Die Kundgebung vor dem Krayer Rathaus, Kamblickweg 27, findet am Dienstag, 10. September, 16 Uhr, statt.

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