Essen. Die legendäre, im Ruhrmuseum ausgestellte WAZ-Fotografin hat über Jahrzehnte unzählige Essener fotografiert; in jungen Jahren auch unseren Autor.

Sommer 1977, vier Essener Jungs haben zum ersten Mal längeren Ausgang von zu Hause. Gut, weit sind die 14- und 15-Jährigen nicht gerade gekommen, nur bis zur Jugendherberge Werden. Das war aber immerhin weit genug für ein paar Tage elternlose Freiheit.

Wir hatten gerade ausgepackt, da steht der äußerst bestimmende Herbergsvater im Zimmer: Die WAZ ist gekommen, braucht dringend ein Bild für eine Jugendherbergs-Reportage. Wir mögen, bitteschön, vor dem Haus antreten, und zwar zackzack. Dass wir nein sagen, weil wir vielleicht gar nicht in die Zeitung wollten, war nicht vorgesehen.

Draußen steht eine Fotografin, die spürbar nicht viel Zeit hat und uns rasch mit sicherer Hand im Halbkreis drapiert. Dann mahnt sie uns, möglichst dynamisch zu wirken, so als ob wir gerade ankommen würden, was wegen der ja bereits leeren Seesäcke ziemlich komisch aussah. Egal, es machte dreimal „Klick“ - und fertig war meine erste Begegnung mit Marga Kingler.

Es sollte nicht die letzte sein, was damals aber keiner ahnen konnte. Erst mehr als acht Jahre später, als ich selbst in den Essener Lokaljournalismus einstieg und Marga Kingler regelmäßig auf Terminen traf, wurde mir klar, dass wir in Werden als Statisten einer typischen Sommerloch-Story dienten, aber auch einer lokalen Legende begegnet waren; einer Legende, die heute zu Recht ausstellungswürdig ist.

Ausschnitt einer Zeitungsreportage vom 25. August 1977. Der Autor (3v.li.) mit drei Schulfreunden vor der Jugendherberge in Essen-Werden.
Ausschnitt einer Zeitungsreportage vom 25. August 1977. Der Autor (3v.li.) mit drei Schulfreunden vor der Jugendherberge in Essen-Werden. © WAZ FotoPool | Kingler

Marga Kingler hatte gute Nerven und wenn nötig auch Haare auf den Zähnen

Marga Kingler hatte gute Nerven, wenig Angst, ein schwer erschütterbares Selbstbewusstsein und nötigenfalls Haare auf den Zähnen. Das war allerdings auch unentbehrlich, wenn eine Frau Anfang der 1950er Jahre die Pressefotografie erobern wollte. WAZ-Mitbegründer Jakob Funke hatte die 19-jährige Fotolaborantin eingestellt, und Kingler erzählte später gerne, dass sie und ihr unmittelbarer Vorgesetzter wenige Tage nach dem ersten Arbeitstag im Verlegerzimmer standen. Der Mann klagte, er käme mit einer Frau im Job nicht klar. Das sah Funke anders. „Mädel, du machst das schon“, befand er aufmunternd. Damit war die Sache erledigt.

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Und Marga Kingler biss sich durch, fand ihren Stil und wurde für die Essener Lokalredaktion zum Markenzeichen und Aushängeschild. „Das erste Foto war ein Autounfall am AEG-Haus an der Kruppstraße“, erinnerte sie sich einmal. Und auch daran, dass ihre Mutter am nächsten Morgen um 5 Uhr aufstand und den Zeitungsboten abpasste, um zu schauen, ob das Foto der Tochter wirklich in der WAZ stand.

Unfälle und Katastrophen waren allerdings nicht ihre Lieblingsmotive: „Da diente die Kamera manchmal auch als Schutz, um die eigene Betroffenheit zu verbergen.“ Dennoch war sie auch da, wo es weh tat oder Konflikte aufbrachen. „Ich hatte viel Ärger mit der Polizei, die damals ja viel härter auftrat.“ Bei der Mai-Kundgebung 1954 auf dem Burgplatz wurde sie sogar kurz festgenommen und ziemlich unsanft in die „Grüne Minna“ befördert.

Menschen in alltäglichen Situationen waren ihre Lieblingsmotive

Prägend war für sie die Erfahrung, einzige Frau in einer männerdominierten Zeitungswelt zu sein. In der Dubois-Arena in Borbeck, wo in den 1950er und 1960er Jahren große Boxkämpfe stattfanden, bekam sie sie den teils noch verschwiemelten Zeitgeist besonders hart zu spüren. „Da wurde ich vom Ring wegbeordert, weil ich als Frau die Boxer angeblich nervös machte.“ Natürlich blieb sie trotzdem.

Menschen in alltäglichen Situationen, die seinerzeit rasanten baulichen Veränderungen in Essen, auch das stille, skurrile Motiv am Rande, das außer ihr niemand gesehen hatte – sowas lag ihr besonders. Und wenn man sie ließ, dann brachte die stets elegant auftretende Fotografin auch eine ganz neue Ästhetik und Bildsprache in die Zeitung: Mode etwa oder wild herumtollende Kinder. „Ich habe immer am liebsten Menschen fotografiert“, erzählte sie oft.

Dabei kam ihr zugute, dass sie die vielleicht wichtigste Tugend eines Fotoreporters besaß: Menschen die natürliche Scheu vor der Kamera zu nehmen. So wie uns damals im Sommer 1977 in Werden.

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