Essen. 40 Jahre Zeit- und Zeitungsgeschichte in unzähligen Bildern: Das Ruhr Museum feiert das Lebenswerk der Essener WAZ-Fotografin Marga Kingler.
Die große Welt im Kleinen: Selten hat man sie vermutlich so facettenreich und gleichsam verdichtet, so ausschnitthaft und doch so umfassend dokumentiert gesehen wie im Werk von Marga Kingler. 40 Jahre hat sie als Fotografin der Essener WAZ-Lokalredaktion das Erscheinungsbild der Stadt geprägt und dabei eines der umfassenden und bedeutenden Archive analoger Tageszeitungs-Fotografie hinterlassen. Das Ruhr Museum widmet der 2016 verstorbenen Fotografin nun eine Galerie-Ausstellung.
Zwischen großer Politik und Kleingartenidyll
Sie gibt erstmals Einblick in das Lebenswerk und die Arbeitswelt der geschätzten Chronistin, die die Bildsprache dieser Zeitung entscheidend prägte und zum Markenzeichen wurde. „Unterwegs mit Marga Kingler. Pressefotografin im Ruhrgebiet“ wird zu einer vielschichtigen Begegnung mit vier Jahrzehnten Zeit- und Zeitungsgeschichte – zwischen Karnevalssitzung und Kriegsheimkehrern, großer Politik und Kleingartenidyll.
250 Aufnahmen aus einem riesigen Konvolut von 150.000 Negativen sorgen für einen interessanten, amüsanten, bisweilen auch nostalgisch stimmenden Streifzug durch 40 Jahre Essener Stadtgeschichte. Und weisen manchmal doch weit über das lokale Ereignis hinaus. Zahllose, ikonisch geratene Fotografien fangen schließlich nicht nur den besonderen Look der 1950er, 60er, 70er und 80er Jahre ein, in denen Kingler so ziemlich jedes lokale Ereignis festgehalten hat, von der 60er-Jahre-Modenschau bis zur Zeugnisvergabe.
Sie erzählen auch von der Geschichte der Bundesrepublik und dokumentieren bedeutende Ereignisse der Zeitgeschichte. Für den Kontext sorgt das Ruhr Museum, das nach der Übernahme des umfangreichen Fotobestands Mitte der 1990er Jahre durch umfassende Recherchen im Stadtarchiv und Zeitzeugen-Gespräche den historischen Rahmen schafft.
Fotoschau mit Motiven von der Motorshow bis zum Protestmarsch
Tageszeitungs-Fotografie, das war nun mal damals wie heute ein Geschäft mit lebhafter Auftragslage und wenig Zeit für pingelige Beschriftung. Groß aufgezogene, reproduzierte WAZ-Zeitungsseiten stehen für das breite Aufgabenspektrum, das Kingler an einem einzigen Produktionstag bedient hat – vom Besuch begeisterter DDR-Journalisten bei der Essener Motorshow über die Ordensverleihung mit Kardinal Hengsbach bis zum Protestmarsch für mehr Demokratie in China.
Die Aufnahme eines Riesenkohlrabi und Kanzler Helmut Kohl beim telegenen Hausbesuch bei Familie Zeitz auf der Margarethenhöhe, eine Autokarambolage auf der A 40 und enthemmte Fans beim Bill-Haley-Konzert in der Grugahalle – die Themenauswahl der Ausstellung ist enorm. Sie reicht von der Sportberichterstattung bis zu Polizei- und Feuerwehreinsätzen, vom Wirtschaftsleben der Stadt bis zu kulturellen Ereignissen. Sommer-Schlussverkauf und Papstbesuch, Kegelclub-Jubiläum und John F. Kennedy beim Staatsbesuch in Köln: Der stete Wechsel zwischen alltäglichem Terminjournalismus und bedeutsamer fotografischer Zeitzeugenschaft macht die Ausstellung wie die Arbeit der 1931 als Marga Busshoff geborenen Fotoreporterin aus.
Auftritt der Oben-ohne-Frauenband „Sweethearts“ in der Essener Nachtbar „Eve“
So steckt auch die mit Themen-Vitrinen und Bilderloops angereicherte Fotoschau voller augenfälliger Kombinationen und Kontraste. Das nachrichtliche Bild von der Einführung der Antibabypille hängt gleich neben einer Aufnahme der Oben-ohne-Frauenband „Sweethearts“ in der Essener Nachbar „Eve“. Sexuelle Revolution trifft in der Ausstellung auf biedere Bürgerschützen-Gemütlichkeit. Und beim Besuch von Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf einer Stauder-Bierparty 1985 darf sich noch eine Bauchtänzerin dekorativ ins Bild biegen. Kinglers Bilder zeugen auch davon, wie sich Gesellschafts- und Geschlechterbilder verändert haben.
Auch für Kingler, die Anfang der 1950er Jahre als Laborantin zur WAZ kommt und von Herausgeber Jakob Funke zum Volontariat ermuntert wird, dürfte der Job als Fotografin bisweilen durchaus ein emanzipatorischer Kraftakt gewesen sein. Nicht nur, weil sie an langen Arbeitstagen Mittelformat-Kamera, Stativ und Stabblitz herumschleppen muss, um trotz hohem Termindruck stets Bilder von hoher gestalterischer und technischer Qualität zu machen.
Kingler gelingt es damals auch mit der ihr eigenen Mischung aus Charme und Durchsetzungskraft, in einer von Männern dominierten Zeitungswelt zu bestehen. Anfang der 70er wird sie sogar in die Deutsche Gesellschaft für Photographie (DGPh) aufgenommen (damals ein echter Ritterschlag). Ihre Rolle als Fotografin findet sie dabei auf ganz eigene Weise: „Elegant gekleidet, gut geschminkt und frisiert“, wie es im Katalog zur Ausstellung heißt, dabei „selbstbewusst, lebhaft und durchsetzungsfähig“, etabliert sich Kingler allseits akzeptierte „rasende Reporterin“. Lange bleibt sie die einzige festangestellte Fotografin im Verlag.
Mehr Infos zur Ausstellung
Die Ausstellung „Unterwegs mit Marga Kingler. Pressefotografin im Ruhrgebiet“ ist vom 29. April 2024 bis zum 12. Januar 2025 im Ruhr Museum, Zeche Zollverein, Gelsenkirchener Str. 181, zu sehen. Öffnungszeiten: Mo bis So, 10 bis 18 Uhr.
Der Eintritt beträgt 5, erm. 4 Euro. Für Kinder, Jugendliche, Schüler und Studierende ist der Eintritt frei.
Der reichhaltig bebilderte Katalog ist im Klartext-Verlag erschienen und kostet 29,95 Euro. ISBN 978-3-8375-2631-8.
Mehr Infos zum Rahmenprogramm unter www.ruhrmuseum.de
In einem 2012 aufgezeichneten Interview mit Marga Kingler, das in der Ausstellung zu sehen ist, lässt sich dabei gut erkennen, was diese Ausnahme-Fotografien gekennzeichnet hat. „Willensstark, engagiert und direkt im Umgang mit anderen Menschen“ gelingen ihr Porträts wie auch fotografischer Zeitzeugenschaft. Etwa eine exklusive Fotoreportage über die Hochzeit von Arndt von Bohlen und Halbach mit Henriette Prinzessin von Auersperg im Jahr 1969 oder eines der seltenen Bilder von Aldi-Mitbegründer Theo Albrecht nach seiner Entführung 1971.
Mit der Kingler-Ausstellung will das Ruhr Museum nicht nur eine bisher wenig beachtete Bildgattung des Lokaljournalismus in den Fokus rücken. Die Schau ist auch der Auftakt einer Fotografinnen-Reihe, die im kommenden Jahr mit Bildern von Ruth Hallensleben und Brigitte Kraemer fortgesetzt wird. .
Marga Kingler, Ruhrgebietsfotografin
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