Dinslaken. So halfen Siegfried und Rosi Rothschild im jüdischen Waisenhaus in Antwerpen auch Kindern aus Dinslaken, sich den Nazis zu entziehen.
Siegfried Rothschild wird wie Tausende anderer Flüchtlinge aus Deutschland als „unerwünschter Ausländer“ von den belgischen Behörden in das unbesetzte Südfrankreich gebracht. Er wird in den Lagern St. Cyprien, Gurs und Rivesaltes inhaftiert.
Rosi Rothschild bleibt nach der Verhaftung ihres Mannes mit ihren beiden Töchtern und ihrem Vater in Antwerpen zurück. Das Waisenhaus wird nun als Kinderheim unter die Kontrolle der jüdischen Zwangsvereinigung in Belgien, Association des Juifs en Belgique (AJB), gestellt. Damit untersteht das Heim dem direkten Zugriff des Befehlshabers der deutschen Sicherheitspolizei (BdS).
Heim als Zwischenstation auf dem Weg nach Auschwitz
Im Kinderheim Rothschild und auch im Haus Tiefenbrunner bringt die deutsche Sicherheitspolizei manchmal Kinder vorübergehend vor ihrer Deportation nach Auschwitz unter. Namentlich aufgeführt, werden die Kinder Rosi Rothschild und Jonas Tiefenbrunner übergeben.
Nach dem Krieg kann Frau Rothschild den belgischen Justizbehörden die Namen von siebzehn unbegleiteten Kindern sowie den einer Mutter und ihrer drei Kinder nennen. Alle Personen waren vorübergehend im Kinderheim untergebracht und werden im Oktober 1942 nach Auschwitz deportiert. Darunter befindet sich auch ein inzwischen neunjähriges Kindertransportkind aus Wien.
Vermutlich ein Kind vor den Nazis im Waisenhaus versteckt
Rosi Rothschild gelingt es vermutlich, einem Kind aus der jüdischen Gemeinde Dinslakens in ihrem Heim ein Versteck zu geben. Hanna Elkan war mit ihrem Bruder Berthold am 20. Dezember 1938 mit dem Transport der „Kinder aus dem Waisenhaus Dinslaken“ nach Brüssel gekommen. Sie sind Halbwaisen, ihre Eltern besaßen in unmittelbarer Nähe zum Waisenhaus Dinslaken ein Manufakturwarengeschäft. Anfang 1939 stirbt die Mutter im Israelitischen Krankenhaus in Köln. Hannas Gastmutter, Roosje Simmeren, fällt am 10. Oktober 1942, vermutlich bei einer Razzia, den Deutschen in die Hände und wird am 24. Oktober vom „Durchgangslager“ Malines nach Auschwitz deportiert.
Hanna Elkan aber gelangt unter nicht bekannten Umständen in das von Rosi Rothschild geführte Haus und wird nicht mehr im sogenannten „Judenregister“ registriert. Ihr Bruder Berthold kommt mit anderen Kindern und Jugendlichen nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 nach Südfrankreich und wird 1943 von Drancy nach Majdanek deportiert.
Kinder in den letzten Kriegstagen vor Deportation bewahrt
Im Januar 1944 wird das Kinderheim Rothschild von Antwerpen nach Lasne verlegt. In den letzten Kriegstagen – Brüssel wird am 10. August 1944 befreit – bekommt Rosi Rothschild davon Kenntnis, dass die Deutschen die Kinder und auch das Personal der Waisenhäuser in Belgien deportieren wollen. Sie bringt sie, auch die eigenen Töchter Miriam und Eva, in verschiedenen Einrichtungen und bei Privatpersonen unter.
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„Zuletzt hat man das Kinderhaus, das sie geführt hat, aufgelöst. Man hat ihr gesagt, sie müsse verschwinden, denn die Deutschen, die dieses Kinderheim genehmigt haben, werden es jetzt ausräumen, und die arbeitenden Leute und die Directrice für die Kinder werden sie alle verschicken. Verschwinden. Da hat meine Frau ihre beiden Kinder genommen, und die sind untergebracht worden, und sie ist auch verschwunden in ein Dorf in der Nähe von Waterloo. (Alle anderen Kinder) waren auch untergebracht“, berichtet Siegfried Rothschild nach dem Krieg in einem Interview der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Nach der Befreiung Belgiens holt Rosi Rothschild die Kinder aus ihren Verstecken und bringt sie in den Kinderheimen Linkebeek und Wezembeek unter.
Siegfried Rothschilds Weg aus der Gefangenschaft in die Heimat
1943 gelingt Siegfried Rothschild die Flucht in die Schweiz. Unter lebensgefährlichen Umständen erreicht er die französische Stadt Chambery in den Savoyer Alpen. Hier existiert ein Kinderheim der jüdischen Organisation Oeuvre de secours aux enfants (OSE), die sich um jüdische Flüchtlingskinder in Europa kümmert. Rothschild ist mit der Französin Andrée Salomon, einer der Mitarbeiterinnen des OSE, bekannt. Sie kümmert sich für die OSE in den Lagern Gurs und Rivesaltes um Ausweispapiere und Fluchten jüdischer Kinder.
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Vermutlich ist sie auch an den Bemühungen zur Verlegung Rothschilds von Gurs in das weniger streng bewachte Lager Rivesaltes beteiligt: „Und ich bin nach Chambéry gekommen und habe mich gemeldet bei meinen Freunden. Haben sie gesagt, sehr gut, dass du da bist. Morgen wirst du einen Kindertransport in die Schweiz bringen. Also man hat mir also am nächsten Tag eine Gruppe von Kindern übergeben,“ so Siegfried Rothschild nach dem Krieg.
Siegfried Rothschild bringt die Kinder und eine Frau mit ihrem Baby sicher über die französisch-schweizerische Grenze. Nach einer mehrwöchigen Internierung wird ihm die Leitung eines Kinderheims für jüdische Flüchtlingskinder in Basel angeboten. Dort arbeitet er bis zum Ende des Krieges.
Im Mai 1945 kehrt er von Basel zu seiner Familie nach Belgien zurück: „Meine Frau wusste, dass dieser Zug ankommen wird. Aber man wusste nie genau, wie weit dieser Zug unterwegs gestört wird. Ob er ankommen wird am Sonntagabend oder am Montag. Und meine Frau konnte das nicht aushalten. Und sie ist nicht am Bahnhof gewesen. Sie konnte es einfach nicht. Also war ich wieder da.“
Nach dem Krieg nach Israel eingewandert
Siegfried Rothschild übernimmt 1945 die Leitung eines Kinderheims in Auderghem/Belgien. Seine Frau sieht sich kurz nach der Beendigung des Krieges nicht in der Lage, weiterhin eine Leitungsfunktion zu übernehmen. Nach einem Aufenthalt im Jahr 1948 in den USA wandert die Familie 1951 nach Israel ein. Siegfried – nun Pinchas – Rothschild übernimmt die Leitung eines Kinderheims in Afula, seine Frau ist dort als Kinderpflegerin tätig.
Die Rettungsbemühungen des Ehepaares Rothschild und ihre Verdienste um die Kindertransporte nach Belgien und um das Wohl vieler Kinder während des Krieges sind der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt. In den Archiven in Belgien und auch in den USA lassen sich jedoch zahlreiche Zeugnisse überlebender Heimkinder voller Dankbarkeit, insbesondere gegenüber Rosi Rothschild, finden. Rosi Rothschild stirbt 1980 in Jerusalem, ihr Ehemann im Jahr 2001.
>>>Hintergründe zum Thema
Die internationale Holocaust-Gedenkstätteerinnert auf einer eigenen Seite an das Novemberpogrom in Dinslaken. Im digitalen Archiv von Yad Vashem ist auch das Interview mit Dr. Siegfried Rothschild (der sich nach dem Krieg Pinchas Rothschild nannte) abrufbar.
Das jüdische Waisenhaus befand sich an der Neustraße, an der Stelle, wo heute die dm-Filiale ist. Ein Mahnmal und Stolpersteine erinnern an das Gebäude und das Schicksal seiner Bewohner.
Unsere Gastautorin Anne Prior hat die Geschichte der Juden in Dinslaken aufgearbeitet und den Verein Stolpersteine Dinslaken gegründet. Sie wurde für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.