Tosender Jubel: Das Opernhaus Dortmund hat einen neuen Knüller. Wie Vincent Boussard Verdis Meisterwerk in Szene setzt. Unsere Kritik

Es war ein Opern-Wochenende der Extreme: In Essen geriet Mozarts „Zauberflöte“ komplett unter die Räder einer Ich-zentrierten Regie, in Dortmund ließ unter gewaltigem Jubel des Premierenpublikums ein ungleich sensiblerer Zugriff nicht den geringsten Zweifel am Primat der Musik. Es ist die Art Zurückhaltung, die Früchte trägt – auch weil wir bei der neuen „Traviata“ von einem Ereignis außerhalb der Bühne schwärmen dürfen.

„Traviata“ in Dortmund: Auch ein Triumph von Dirigent Will Humburg

Denn es entsteigt dem Orchestergraben ein im wahrsten Sinne un-erhörter Zauberklang. Und das ausgerechnet bei Verdi, dem freiwillig-unfreiwilligen Schlagerproduzenten, den die Reklame über Jahrzehnte vom Schoko-Crossie bis zum japanischen Fünftürer wieder und wieder durch ihren Jingle-Kakao gezogen hat. Aber da steht am Dirigentenpult der altersweise Will Humburg, den Ältere noch als Feuerkopf kennen, der damals als Dirigent im Aalto-Theater zu Dietrich Hilsdorfs „Trovatore“ mächtige Feuerfunken schlug. Überwältigend der Reichtum an Nuancen, feinsten Schattierungen, den Humburg mit Dortmunds exquisit aufspielenden Philharmonikern der Partitur entlockt; keine Wiederholung, die nicht eine dynamische Variation erfährt. Und es regiert ein Mut zum extremen Pianissimo wie zum nachtschwarzen Ausbruch, der den Genre-Maler Verdi zu durchdringen versteht vom zarten Seelenpastell bis zum monumentalen Panorama zerstörter Lebenswelten. Betörend gut.

Traviata
Die extrem reduzierte Bühne beschwört die Wirkungskraft der Musik. Szenenfoto aus der Neuinszenierung von „La Traviata“ am Opernhaus Dortmund; Regie führte Vincent Boussard. Am 15. September war die Premiere in Dortmund. © Buntes | La Traviata

Frank Philipp Schlößmanns Bühne schenkt diesem Klangereignis Raum. Mit Regisseur Vincent Boussard setzt er aufs Zeichenhafte, arbeitet extrem minimalistisch. Kein Pomp, keine Ausstattungsorgie überwuchert den Schicksalsweg der Titelheldin Violetta. Als sie noch in den Salons ganzen Männerscharen die Köpfe verdreht, erzählen allein hunderte Rosenblätter am Boden davon. Buhlen: bloß ein botanisches Kavaliersdelikt. Und nicht zufällig ist Violettas Kleid (alle Roben entwarf Regisseur Boussard) vom gleichen tiefrot – auch das Welken dieser Blüte also nur eine Frage der Zeit.

„Traviata“ in Dortmund: Fokus auf der privaten Tragödie einer Kurtisane

Premieren an Rhein und Ruhr

Wer sich Dortmunds letzter „Traviata“ erinnert, der mag in dieser Neudeutung den gesellschaftspolitischen Biss vermissen, mit dem Tina Lanik damals den Sturz der Kurtisane Violetta bohrend in der Abhängigkeit von einer wankelmütigen Society ausmachte. Boussard aber hat sich entschieden für die private Tragödie. Eine Frau mit verwerflicher Vergangenheit, ein guter Mann, (Alfredo) für ein neues Leben, dessen Vater mit Macht und Moral alle Zukunft zerstört. Dieses Dreieck der Unseligkeit erhält bei Boussard vor allem im zweiten Akt die Intensität eines dunklen Kammerspiels. Wer hätte gedacht, dass man Verdis Italianità so schlüssig an den Abgründen Ibsens siedeln lassen kann?!

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„La Traviata“ in Dortmund arbeitet mit wenig Pomp. Nur in der Ballszene im zweiten Akt zaubert die Regie effektvoll, wie unser Bild zeigt. © Buntes | La Traviata

Wer so über innere Vorgänge arbeitet, das Drama so aus den Figuren heraus entwickelt (die etwas kunstgewerblichen Projektionen fallen kaum ins Gewicht), kann das nicht ohne Sängerdarsteller tun. Anna Sohn in der Titelpartie rührt umso mehr, als sie prima vista das Bild der Pariser Salonschlange ganz und gar nicht bedient. Ihr anrührendes Rollenporträt wird noch übertroffen von einer Gesangskultur, die das Piano duldsamer Melancholie so mühelos in der Kehle führt wie die mörderischen Koloraturen des „sempre libera“. Beim Schlussapplaus für Sohn stand das Publikum regelrecht kopf.

„Traviata“ in Dortmund: herausragende Sänger

Sohn ist in guter Gesellschaft. In der Premiere sang Andrea Carè den Alfredo, in italienischer Tenorkultur erster Güte: satter Schmelz, eine nicht zu dominante baritonale Grundierung, groß im Ton, raffiniert in der Phrasierung. Und doch hatte er Pech: In der tückischen „o mio rimorso“-Arie brach Caré komplett ein. Es passiert den Besten.

Als Alfredos Vater hören wir Mandla Mndebele vielleicht im schönsten, ja großartigsten Rollenporträt seiner nunmehr sechs Dortmunder Jahre. Das klingt nie vordergründig, nie verrät er die Partie an eine Tugendbold-Karikatur. Da tragen Verzweiflung und väterliche Autorität die gleiche Farbe nobler Bariton-Bronze. Der Vortrag des Südafrikaners fesselt balladesk, nichts wird roh hingeschmettert. Der Chor zeigt sich in glänzender Form.

In Sachen Qualität und Publikumsgunst (das ist ja längst nicht immer deckungsgleich) war das also Auftakt nach Maß in die neue Spielzeit, die in Dortmund noch so hochrangige Repertoirewerke wie „Fledermaus“ und „„Götterdämmerung“ auf dem Spielplan hat.

Termine und Karten

Giuseppe Verdi: „La traviata“, Opernhaus Dortmund, 2:45 h, eine Pause.

Nächste Termine: 28. September; 3., 6., 13., 19. und 25. Oktober sowie viele weitere Aufführungen bis Ende des Jahres.
Karten: 16 bis 61 € unter theaterdo.de.

Auf der Website finden sich auch die Tagesbesetzung. Die von uns genannten Interpreten singen nicht in allen Vorstellungen.