Bochum. Qual als Kunst: Becketts „Warten auf Godot“ überträgt Regisseur Ulrich Rasche schonungslos aufs Publikum - ein Theater-Marathon
Dieser Abend ist mutig. Und er ist eine Zumutung. Dieser Abend ist große Kunst. Und ist noch größere Künstlichkeit. Dieser Abend ist Theater als Droge. Und zugleich ist er ein Dokument der Unerträglichkeit. Ulrich Rasche inszeniert „Warten auf Godot“ am Schauspielhaus Bochum.
Fast vier Stunden „Warten auf Godot“ in Bochum
Samuel Becketts „Godot“ ist eines der großen Rätsel unter den Dramen des 20. Jahrhunderts. Da warten zwei - mehr Landstreicher als Helden - auf einen, der nie kommen wird. Der Autor selbst hat es inszeniert, vor 50 Jahren kam er mit zwei Stunden aus, zu erzählen von der Leere, von der Absurdität, an eine gute Macht über uns zu glauben, vom Leben als Dauerzustand eines Hoffens, das immer hoffnungslos bleiben wird. In Bochum werden es (samt langer Pause) fast vier. Am Ende wanken wir aus dem Theater, bedrückt, erschöpft und - beschenkt.
Dieser Widerspruch trägt die Inszenierung durchweg. Man will schon bald, dass es ein Ende hat und scheut es doch, denn es wird uns die schließliche Botschaft suggestiv wie selten treffen. Dabei sind Rasches Mittel nicht einmal überraschend. Das Stück ist ein Mysterium - er nebelt die Bühne permanent zu. Die Suche von Wladimir und Estragon dreht sich im Kreis - Rasche (Bühnenbild gemeinsam mit Franz Dittrich) setzt auf zwei (meist gegenläufig) kreisende Scheiben als einzige Spielfläche.
Bochums „Warten auf Godot“, komplett ohne Requisiten
Nicht die kleinste Requisite hat Platz in diesem szenischen Nirwana, nicht der Gürtel, an dem sie sich aufhängen möchten, nicht Stuhl, Strick, Koffer und Peitsche, die das tragikomische Herr-und-Knecht-Duo Pozzo und Lucky eskortieren.
Und Rasches Rigorismus geht weiter, er will es anders als Beckett, der seine Hauptdarsteller auch Clowns sein ließ, am liebsten wie Laurel und Hardy, der sie blödeln ließ, kleinkariert zanken, wofür der Zirkus des Daseins nun einmal auch Verlierern die Manege freigibt. Rasche aber überträgt die monströse Last der Unerlösten von Beginn an auf sein Personal. Bedingungslos. Nachgerade puppenmechanisch stapfen sie gebeugt ihrem nicht vorhandenen Ziel entgegen. Tristesse auf Trip. Auch Ton und Sprache unterwirft Rasche der Lage, kaum Platz fürs Virtuose mehr in dieser gespenstischen Fläche, die ans unheilvolle Grauen von Shakespeares kahler Heide denken lässt.
Steven Scharf und Guy Clemens in „Warten auf Godot“ am Schauspielhaus Bochum
Rasche weiß aber auch: Wer stundenlang vom Nichts erzählt, muss alles in Bewegung setzen. Und so ist seine Inszenierung ein Gesamtkunstwerk, in ihrer Choreographie Schwester des Tanztheaters, in der Sprache der Zeichen (von der Kreuzabnahme bis zur Pietà mit vielen Anspielungen auf die Passion Jesu) geradezu skulptural. Sie wandelt als Performance auf dem pausenlos düster gewebten Soundteppich einer Live-Band. Und der riesige mobile Lichtkreis, der vom Mond bis zum Auge eines zynischen Schöpfers viele Gesichter hat, ist kaum weniger als eine ehrgeizige Kunst-Installation.
Natürlich prüft der Abend die Zuschauer, geht bei einem Beckett‘schen Dialogfetzen wissendes Kichern durch die Reihen: „Langweilen Sie sich, Herr?“ „Nun, es ist kein reines Vergnügen.“ Da will eine Inszenierung zweifellos gegen dargestelltes Elend als Zuschauer-Amüsement arbeiten. Und es gelingt. Je länger der Abend dauert, desto näher kommen wir ihnen, obwohl das Quartett in Rasches Regie kaum noch menschliche Wesen zeigt. Es sind tote Seelen, Zombies, die keine Ruhe finden, aber wir können, wir wollen nicht wegschauen.
Die Wucht der Bilder, das Diktat des Konzepts: Leicht ist es nicht, hier als Schauspieler noch zu individueller Kontur zu finden. Bewundernswert ordnen sich Guy Clemens (Estragon), Dominik Dos-Reis (Pozzo), Yannik Stöbener und (allen voran und von bannender Intensität) Steven Scharfs Wladimir Rasches Denkart unter. So artifiziell der Abend ist, dieses Ensemble schenkt ihm eine unheimliche Vitalität.
Kandidat fürs Berliner Theatertreffen
Großes Theater? Das darf man sagen. Aber eines von der heute nicht seltenen Ambivalenz. Die kann beides zur Folge haben: ein Ticket zum Berliner Theatertreffen und zugleich alles andere als einen vollen Zuschauerraum. Besucher brauchen viel Kraft für diesen Abend, auch um ein altes Lied unendlich oft zu hören. Die Drehbühne wird zur Schallplatte unseres Seins. Sie hat einen Sprung. Der Song von den Mühen der Ebenen, er will nicht verstummen, so lange es uns Menschen gibt.
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„Warten auf Godot“: Karten, Termine
Ulrich Rasche inszeniert Becketts „Warten auf Godot“, Schauspielhaus Bochum. Die von uns angegebene Länge von fast vier Stunden (eine Pause) betraf die Premiere, die etwas später begann und (möglicherweise) eine längere Pause hatte.
Nächste Aufführungen 8.9, 5.10, 6.10, 26.10. Karten (ab 12€) unter 0234-33 33 55 55 und auf der Website