Hamburg. Bäcker steuert die Brötchenproduktion, Stahlwerk spart Material, KI-Assistent berät Otto-Kunden. Was sich Unternehmen davon versprechen.

Eine Mehrheit der Hamburgerinnen und Hamburger dürfte in ihrem Alltag noch nicht bewusst mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu tun gehabt haben, auch wenn Sprachassistenten wie Siri oder Alexa, die mit dieser Technik arbeiten, schon seit einigen Jahren auf dem Markt sind. Zwar hat die Freischaltung des Textgenerators ChatGPT durch das US-Unternehmen OpenAI im vorigen November geradezu einen KI-Hype ausgelöst.

Denn dieses Programm kann auf nahezu jede schriftlich gestellte Frage sinnvoll erscheinende Antworten liefern und Unterhaltungen führen, die kaum von denen mit einem Menschen zu unterscheiden sind. Aber in der Regel findet man Anwendungen Künstlicher Intelligenz gewissermaßen hinter den Kulissen.

Künstliche Intelligenz steuert Brötchenproduktion – auch zu HSV-Spielen

So setzt die Bäckereikette Junge mit 48 Filialen in Hamburg eine selbstlernende Software ein, um für jedes einzelne Geschäft anhand von etlichen Eingangsdaten wie dem Wochentag und der Wetterprognose die Nachfrage zu prognostizieren und so Überschüsse zu vermeiden. Für manche der Hamburger Filialen wird sogar automatisch berücksichtigt, wenn der HSV ein Heimspiel hat.

In der Bäckerei Junge setzt Geschäftsführer Tobias Schulz Künstliche Intelligenz ein, um für jedes einzelne Geschäft anhand von Eingangsdaten wie dem Wochentag und der Wetterprognose die Nachfrage zu prognostizieren
In der Bäckerei Junge setzt Geschäftsführer Tobias Schulz Künstliche Intelligenz ein, um für jedes einzelne Geschäft anhand von Eingangsdaten wie dem Wochentag und der Wetterprognose die Nachfrage zu prognostizieren © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Im Hamburger Stahlwerk von ArcelorMittal nutzt man eine KI, die den Schrottanteil bei der Walzdrahtherstellung um 20 Prozent verringert: Prozessbedingt ist die Qualität des Drahts am Anfang und Ende schlechter als im Mittelstück, dem sogenannten Filet. Daher müssen die Enden abgeschnitten werden. Anhand von Daten aus dem aktuellen und historischen Produktionsvorgängen errechnet das Programm in Sekundenbruchteilen den optimalen Schnittzeitpunkt und reduziert damit den Schrott, weil sonst unnötig viele Meter gekappt würden.

Wie Künstliche Intelligenz Hamburger Unternehmen hilft

Als „erster Onlineshop in Deutschland“ testet der Versandhandelskonzern Otto seit dem Montag einen „KI-Assistenten“, der die Produktberatung für Kundinnen und Kunden verbessern soll. Der KI-Assistent beantworte Fragen innerhalb weniger Sekunden, basierend auf vorhandenen Produktbewertungen und -beschreibungen. „Letztlich hilft es auch, Retouren zu vermeiden – was nicht zuletzt aus Nachhaltigkeitsgründen ein gewichtiger Faktor ist“, heißt es von Otto.

Lufthansa Technik baut auf KI, um die Wartungskosten von Flugzeugen zu senken und ungeplante Werkstattaufenthalte weitgehend überflüssig zu machen. Dazu sucht man automatisiert in den immensen Datenmengen, die moderne Jets über den Zustand ihrer Komponenten liefern, nach Mustern, die auf bevorstehende Funktionsstörungen hinweisen, lange bevor tatsächlich etwas ausfällt. Andererseits muss man die teuren Teile so auch nicht mehr viel früher als nötig auswechseln.

Nach Erkenntnissen der privaten Initiative AI.Hamburg (AI steht für Artificial Intelligence, die englische Bezeichnung für KI) arbeiten inzwischen rund 140 Unternehmen in der Hansestadt an KI-Lösungen. „Das Potenzial für Hamburg ist sehr groß – nicht nur, weil die Unternehmen profitieren können, sondern auch, weil der Standort mit seiner Verknüpfung bestehender Akteure das richtige Umfeld für die Entwicklung und Skalierung solcher Anwendungen bietet“, sagt Martin Helfrich, Sprecher der Wirtschaftsbehörde.

Noch 2020 hieß es, Hamburg hinke bei KI anderen Städten hinterher

Im Herbst 2020 hatte allerdings die Handelskammer in einem Positionspapier noch gemahnt, Hamburg hinke „anderen Standorten in Deutschland und der Welt in Sachen KI hinterher“. Doch seitdem habe sich in der Stadt „sehr viel getan“, sagt Ragnar Kruse, Mitgründer und Geschäftsführer von AI.Hamburg. So sei die KI für den Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) eines der Schlüsselthemen, das er „persönlich vorantreibt“, etwa mit einer Delegationsreise in die USA mit dem Schwerpunkt KI.

„Auch hat Hamburg mehr als 100 Professoren an zwölf Hochschulen, die das Thema an über 10.000 Studenten pro Jahr vermitteln und damit das Talent von morgen ausbilden“, so Kruse. Zudem zeigen eine Reihe von in den vergangenen Jahren aufgebauten Institutionen wie das Artificial Intelligence Center Hamburg (Aric), das die Zukunftstechnologie durch anwendungsorientierte Forschung fördern und die Chancen einer breiten Öffentlichkeit näherbringen soll, zunehmend Wirkung.

Medizinsektor: Künstliche Intelligenz erkennt Krebszellen

Neben einigen Großunternehmen entwickeln in Hamburg etliche Start-ups eigene KI-Anwendungen. Laut einem Förderprogramm des Bundeswirtschaftsministeriums rangiert Hamburg mit 14 Start-ups hinter Berlin und München an dritter Stelle in Deutschland. Dabei weist die Hansestadt eine Häufung im Medizinsektor auf.

So will Fuse-AI durch eine automatische Kennzeichnung von Protatakrebszellen in MRT-Bildern den Zeitaufwand für den Befund von 20 auf 10 Minuten verkürzen. Mindpeak, nach eigenen Angaben europäischer Marktführer im Bereich der KI in der Pathologie, hat sich auf die automatisierte Identifikation von Brustkrebszellen in Mikroskopiebildern spezialisiert.

Hamburg Unternehmen bietet Identitätsprüfung für Krankenkassen-Kunden

Dagegen will die im Sommer 2021 gegründete Firma Beyond Emotion, eine Ausgründung der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), pflegende Angehörige älterer Menschen unterstützen: Eine Kamera erkennt, wenn die pflegebedürftige Person stark negative Emotionen wie Verwirrung, Angst oder Schock zeigt, und sendet dann eine Nachricht auf das Smartphone von Angehörigen – ebenso, wenn die zu pflegende Person länger nicht im Raum zu sehen war.

Bereits eine deutlich dreistellige Zahl von Beschäftigten hat das im Jahr 2016 gegründete Hamburger Unternehmen Nect, das unter anderem für die Kunden großer Krankenkassen eine Identitätsprüfung anbietet, für die die Nutzer mit dem Smartphone ihren Ausweis mit den Sicherheitsmerkmalen abfilmen und abschließend ein Selfie-Video aufnehmen. Mittels KI-Technologie entscheidet das Nect-Programm, ob der Ausweis echt ist und ob es sich tatsächlich um die Person auf dem Passfoto handelt.

Andere zielen auf die Marketing-Szene. „Unsere Software schreibt die weltweit besten deutschen, KI-basierten Texte“, behauptet das seit 2021 bestehende Start-up Neuroflash. Große Kunden wie die Telekom benutzten die Anwendung, „um ihre Social Media Postings zu verfassen“.

Auch der Hersteller der Elbphilharmonie-Fenster setzt nun auf KI

Sogar ein traditionsreicher Mittelständler wie Fehrmann, der unter anderem Spezialfenster für Megayachten und Gebäude wie die Elbphilharmonie liefert, setzt nun auf KI: „Was wäre, wenn wir bei der Entwicklung von industriefertigen High-Performance-Aluminiumlegierungen von Wochen statt von Jahren sprechen würden?“ An dieser Vision arbeitet dem Wilhelmsburger Unternehmen zufolge „ein mittlerweile achtköpfiges internationales Expertenteam“.

Trotz aller Anstrengungen liegt Europa jedoch im Hinblick auf KI-Anwendungen gegenüber den USA und China weit zurück. Dafür will die EU-Kommission mit einer geplanten Richtlinie zu vertrauenswürdiger KI erreichen, dass die Europäer das Potenzial der Technologie ausschöpfen können, ohne dass dabei Schaden entsteht. „Eine solche Regulation ist auch sinnvoll – denn der ungeregelte Einsatz birgt erhebliche Risiken, für Verbraucher und Unternehmer gleichermaßen“, heißt es von der Hamburger Wirtschaftsbehörde.

Welche Erfahrung Bürgermeister Tschentscher mit ChatGPT machte

KI ist schließlich keineswegs unfehlbar, wie auch Bürgermeister Tschentscher feststellen konnte: Als er das Programm fragte, was es über ihn wisse, habe es unter anderem geantwortet, Tschentscher habe Volkswirtschaft an der Universität Hamburg studiert. Das ist falsch – der Bürgermeister hat ein Medizinstudium absolviert.

Eine für Verbraucher relevante Fehlsteuerung läge vor, wenn zum Beispiel in einer Bank ein zur Bonitätseinstufung verwendetes KI-Programm einer bestimmten Kundengruppe ungerechtfertigt Kredite vorenthält. Hamburg stellt sich auf eine strengere Regulierung jedenfalls frühzeitig ein: Die Unternehmensberatung PwC Deutschland, die Dekra und der Innovationsstarter Fonds Hamburg haben kürzlich eine Gemeinschaftsfirma namens CertifAI für das Prüfen und Zertifizieren von KI-Produkten gegründet. Rund 100 Fachleute sollen in den nächsten Jahren für die neue Hamburger Firma arbeiten.