Hamburg. Experte sieht Auslieferungsziel von rund 720 Flugzeugen in Gefahr. Hunderte fertige A320neo-Jets müssen zur Inspektion.
Der Juni war für Airbus ein voller Erfolg. Es gingen Bestellungen über 902 Flugzeuge ein. Das waren so viele wie noch nie in einem Monat. An 48 Kunden wurden 72 Maschinen ausgeliefert.
Mit zwölf multipliziert würde das Jahresziel von rund 720 Fliegern locker erreicht werden – doch in den ersten Monaten zuvor lief es nicht rund. Lediglich 316 Jets wechselten im ersten Halbjahr den Besitzer.
Rechnerisch klafft also eine Lücke von knapp 50 Fliegern zu einem der wichtigsten Jahresziele des DAX-Konzerns. Und Experten sehen das Einhalten der Prognose in Gefahr. Airbus habe damit erst 44 Prozent der Richtmarke erreicht, errechnete die Berenberg Bank. In den vergangenen 20 Jahren habe der Schnitt zur Halbzeit bei etwa 48 Prozent gelegen.
Airbus: Droht Hamburger Flugzeugbauer erneut ein wichtiges Jahresziel zu verfehlen?
„Das Erreichen des Auslieferungsziels bleibt sportlich“, sagt Heinrich Großbongardt im Gespräch mit unserer Redaktion. „Das Problem mit den Lieferketten hat sich zwar etwas entspannt und deshalb kann Airbus grundsätzlich auch mehr Flugzeuge ausliefern. Aber die Lage bleibt schwierig“, so der Hamburger Luftfahrtfachmann – und das liege vor allem an den Triebwerksherstellern.
Die Auftragswelle für den Flugzeugbaukonzern liegt maßgeblich an den Motoren der neo-Generation (next engine option). Sie sparen etwa 15 Prozent Sprit im Vergleich zur vorherigen Generation und machen die Jets für die Airlines damit betriebswirtschaftlich interessanter. Das Problem: „Der Motor von Pratt & Whitney hält nicht so lange wie die anderen“, sagt Großbongardt. Im Vergleich zu einem herkömmlichen Triebwerk sei er viel reparaturanfälliger. Eine erhebliche Anzahl an Fliegern stehe daher bereits am Boden – und in der nahen Zukunft werden es mehr werden.
Airbus: Hunderte A320neo-Flieger müssen außerordentlich gewartet werden
Denn der Pratt&Whitney-Mutterkonzern Raytheon Technologies teilte am Dienstagnachmittag mit, dass man Mängel bei dem Pulvermetall gefunden habe, das zur Herstellung bestimmter Motorenteile genutzt wird. Dies erfordere eine schnellere Inspektion der Flotte als vorgesehen.
Man gehe davon aus, dass ein erheblicher Teil der PW1100G-JM-Triebwerke, die den A320neo antreibt, innerhalb der nächsten neun bis zwölf Monate beschleunigt ausgebaut und inspiziert werden müsse. Bis Mitte September müssten etwa 200 beschleunigte Ausbauten und Inspektionen vorgenommen werden.
Airbus lieferte bisher mehr als 2800 Maschinen mit neo-Triebwerken aus. Allerdings werden diese teilweise auch mit CFM-Motoren angetrieben, dem zweiten Hersteller solcher Sprit sparenden Triebwerke, der ebenfalls mit Problemen kämpft. Wie viele Maschinen nun gecheckt werden müssen, ist unklar. Es dürften mehrere Hundert sein, eventuell sogar eine vierstellige Zahl.
Mangel an Motorenteilen dürfte sich nun verschärfen
Schon zuvor fehlte es laut Großbongardt an Ersatzteilen für die Pratt & Whitney-Triebwerke. Der Zustand dürfte sich nun verschlimmern. Und die Komponenten konkurrierten zudem mit der Verwendung in neuen Triebwerken, die an die Flügel frisch zusammengebauter Jets gehängt werden könnten.
Es gibt also einen steigenden Bedarf an Triebwerksteilen und fertigen Turbinen. Zumal die Fluglinien den Bestand an Reservetriebwerken erhöhen müssen, um die Flotte weiterhin in die Luft zu bringen.
Doch die Produktion dieser Teile habe eine Vorlaufzeit von mehreren Monaten, weil die Lieferkette in vielen Bereichen sehr träge sei. Insbesondere bei Schmiedeteilen gebe es große Probleme. „Das ist ein Flaschenhals, bei dem noch nicht klar ist, wie der Bedarf aufgeholt werden soll“, sagt Großbongardt: „Selbst wenn man den traditionellen Dezember-Endspurt miteinbezieht, bleibt es eng für das Auslieferungsziel.“
2022 senkte Airbus zweimal das Auslieferungsziel
Airbus legt zum Jahresende meistens ein sehr hohes Tempo vor. So wechselten im Dezember 2019 stolze 138 Maschinen den Besitzer. Aber bereits im vergangenen Jahr musste der DAX-Konzern zweimal seine Zielmarke revidieren.
Ende Juli 2022 bei der Vorstellung der Halbjahreszahlen wurde die Marke von rund 720 auf etwa 700 Flieger gesenkt. Anfang Dezember hieß es dann, auch das revidierte Ziel sei außer Reichweite – Großbongardt hatte diese Entwicklung schon im September vorhergesehen. Am Ende übergab Airbus 2022 insgesamt 661 Maschinen an die Kunden.
Airbus erwartet durch Triebwerksprobleme keine Auswirkungen auf Auslieferungen
Am Mittwochabend nach Börsenschluss wird Airbus seine Quartalszahlen verkünden – wird die Prognose erneut revidiert? Es gebe in diesem Jahr noch Schwierigkeiten in der Lieferkette, räumt Firmensprecher Stefan Schaffrath auf Anfrage ein. Aber die Situation sei beherrschbar. Für 2024 sehe man den Silberstreif am Horizont. „An der Prognose der Auslieferung von 720 Flugzeugen halten wir fest“, so Schaffrath.
Die von Pratt & Whitney angeordneten Inspektionen der Triebwerke hätten aktuell keinen erwartbaren Einfluss auf die Auslieferungen. Die betroffenen Teile seien zwischen dem vierten Quartal 2015 und dem Jahresanfang 2021 produziert worden. Aktuell hergestellte Motoren seien nicht betroffen.
Airbus werde die Kunden bei der Zusammenarbeit mit dem Motorenhersteller unterstützen, um die Situation zu lösen und den Effekt auf die Flotte zu minimieren, so Schaffrath. Die Luftsicherheit sei nicht gefährdet.
Airbus will Raten erhöhen, hat aber Probleme in der Lieferkette
Perspektivisch will der Flugzeugbauer die Fertigung deutlich ausbauen. Zu Jahresanfang wurden rund 50 Maschinen der A320-Familie pro Monat gefertigt. Im Jahr 2026 soll die Rate auf 75 Flieger steigen. Eigentlich war dies sogar schon ein Jahr früher geplant, musste aber nach hinten verschoben werden.
Vorstandschef Guillaume Faury räumte im Gespräch mit dem Internetportal Flight Global vor Kurzem ein, dass der angestrebte Hochlauf aufgrund von Lieferkettenproblemen „viel langsamer verlief als erwartet“. Insbesondere kleinere Zulieferer seien in ein „sehr schwieriges“ Umfeld geraten, in dem es an Rohstoffen, Logistikkapazitäten, Arbeitskräften und Ausrüstung mangele.
Airbus: Anteil an Maschinen made in Hamburg dürfte sinken
Bisher kommt rund die Hälfte der Flieger der A320-Familie aus den vier Endmontagelinien in Hamburg. Zudem gibt es zwei in Toulouse, von denen eine gerade fit gemacht wurde für den Bau des mit 44,50 Meter Länge größten Familienmitglieds A321.
In zwei Jahren sollen zudem jeweils eine zweite Fertigungslinie in Mobile (USA) und Tianjin (China) eröffnen. Künftig sollen alle Linien den A321 bauen können, weil es immer mehr Aufträge für ihn gibt. Statt acht wird es dann zehn Endlinien geben.
Auch aus Finkenwerder wird die Zahl der gelieferten Maschinen zwar steigen – allerdings dürfte sich der Split verändern. „Prozentual wird der Anteil Hamburgs geringer werden“, sagt Großbongardt. „Das schwächt den Standort aber nicht. Hamburg bleibt das Kompetenzzentrum für die Schmalrumpfflugzeuge.“
Viele Teile kommen aus Finkenwerder und werden zu den Überseewerken verschifft. Der Anteil der Endmontage an der gesamten Wertschöpfung eines Flugzeugs wird nur mit fünf bis sieben Prozent angegeben.
Airbus-Standort Hamburg wird weiterwachsen – mehr Stellen
Airbus will allein in diesem Jahr rund 1300 Stellen in der Hansestadt aufbauen und dürfte am Ende des Jahres rund 16.000 Beschäftigte zählen. Auch perspektivisch dürften die Vorzeichen eher auf Jobwachstum stehen, weil die vor einem Jahr an der Elbe gegründete Aerostructures-Einheit zum Beispiel Rumpfabschnitte für die Flugzeuge liefert und unmittelbar vom Ratenhochlauf profitiert, so Großbongardt: „Wenn mehr A320 produziert werden, dann müssen auch mehr Rumpftonnen gebaut werden.“
Mit dem A321XLR kommt zudem der Hoffnungsträger des Konzerns aus Hamburg. Mit einem eingebauten, 13.000 Liter Kerosin fassenden Tank im Frachtraum kann der Flieger bis zu 8700 Kilometer nonstop fliegen und damit auch auf Langstrecken eingesetzt werden. „Der XLR ist eine Profitmaschine, weil er konkurrenzlos ist bezüglich der Kombination aus Reichweite und Kapazität“, sagt Großbongardt.
Für neuen Hoffnungsträger XLR liegen mehr als 500 Bestellungen vor
Bis zu 240 Passagiere passen an Bord. Da auf Langstrecken höhere Ticketpreise durchgesetzt werden können, die den Airlines höhere Gewinnmargen versprechen, dürfte Airbus auch höhere Kaufpreise durchsetzen können. Der Hamburger Luftfahrtexperte hält Größenordnungen von rund 70 Millionen Dollar für realistisch, das dürften etwa 20 Millionen mehr sein als für einen A320neo.
Drei XLR-Maschinen sind bisher gefertigt, die in der Flugerprobung sind. Erstmals im Dienst einer Airline soll er im zweiten Quartal 2024 fliegen. Mehr als 500 Bestellungen für den langstreckengeeigneten Flieger liegen vor, dessen Fertigung auch künftig nach Großbongardts Einschätzung nur in der Hansestadt erfolgen dürfe: „Der Auftragsbestand rechtfertigt keine zweite Endlinie für den XLR irgendwo anders.“ Ob das Unternehmen dies auch so sieht, bleibt offen. Hamburg habe unverändert die Führungsposition bei den XLR-Auslieferungen, sagte Sprecher Schaffrath lediglich.
Airbus erhielt fast doppelt so viele Aufträge wie Boeing
Im Duopol mit Boeing liegen die Europäer derzeit klar vorn. Im ersten Halbjahr sammelte der DAX-Konzern Aufträge über 1080 neue Jets ein – ein Halbjahresrekord. Der Erzrivale aus den USA holte 567. „Das ist eine ordentliche Ausbeute fürs erste Halbjahr für beide Firmen“, sagt Großbongardt: „Aber sie konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Märkte: Airbus profitiert sehr stark von Indien, Boeing von Saudi-Arabien.“
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Mitte Juni bestellte die indische Fluggesellschaft IndiGo 500 Jets der A320-Familie, und Air India wandelte eine Absichtserklärung über 250 Jets in eine Festbestellung um.
Airbus sei seit langer Zeit in dem mittlerweile bevölkerungsreichsten Staat der Erde aktiv und habe daher eine gute Ausgangsposition gehabt und profitiere nun von einem Sondereffekt, so Großbongardt. Die US-Amerikaner pflegen hingegen gute politische Beziehungen in das arabische Land.
Airbus – Experte erwartet künftig weniger Neuaufträge
Insgesamt kämpfe die Branche aber immer noch mit dem Corona-Effekt. Die Auslastung der Maschinen sei noch nicht so hoch wie vor der Pandemie, angehäufte Schulden böten geringere finanzielle Spielräume für Neuanschaffungen, auf dem Leasingmarkt belasten die höheren Zinsen, die sich in der Finanzierung niederschlagen. „Die Fluglinien sind bei Neubestellungen vorsichtig. Sie haben einen großer Orderbestand draußen, von denen sie nicht wissen, wann sie die Maschinen kriegen“, sagt Großbongardt: „Abgesehen von Indien und Saudi-Arabien rutschen wir in eher etwas ruhigere Zeiten.“
Airbus sieht hingegen den Trend, dass sich Airlines jetzt schon bis in die 2030er-Jahre hinein Auslieferungspositionen sichern, so Schaffrath. Das Orderbuch für die A320-Familie ist auf 6740 Maschinen angeschwollen. Und nach den Schmalrumpfflugzeugen erwartet der Konzern nun die nächste Auftragswelle: bei den Langstreckenflugzeugen A350 und A330neo. Verkaufschef Christian Scherer sagte Anfang Juni der Nachrichtenagentur Bloomberg: „Der Markt für Großraumflugzeuge ist sehr, sehr vielversprechend.“