Hamburg. Der Millionen-Diebstahl beim Kupferkonzern ist nur ein Fall von vielen. Auch im Hamburger Einzelhandel entstehen hohe Schäden.

Die Ermittler kamen wie üblich am frühen Morgen und hatten schweres Gerät mitgebracht: Beamte des SEK (Spezialeinsatzkommando) durchbrachen mit gepanzerten Fahrzeugen das Tor zu einem Grundstück in Fredenbeck. Sie bahnten sich – nachdem zwei Hunde erschossen worden waren – den Weg über das weitläufige Grundstück zu einem luxuriös ausgestatteten Haus, um Haftbefehle und einen Arrestbeschluss für Vermögen im Wert von 23,5 Millionen Euro zu vollstrecken.

Als Stunden später die Durchsuchungen im Landkreis Stade und gleichzeitig an und in 20 weiteren Wohnungen, Arbeitsplätzen und Objekten im Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen beendet waren, ließ die Staatsanwaltschaft Hamburg zentnerweise mögliche Beweismittel abtransportieren – darunter einen verschlossenen Tresor.

Der Verdacht: Eine gut organisierte Bande hatte über Jahre beim Hamburger Metallkonzern Aurubis Zwischenprodukte mit wertvollen Edelmetallen mitgehen lassen.

Aurubis, Fielmann und Co: Wenn Mitarbeiter kriminell werden

Der mutmaßliche Kopf der Gruppe war Beschäftigter eines Subunternehmens und hatte Zugang zum Werksgelände. Mehr noch: Die Ermittlungen richten sich auch gegen aktuelle und frühere Aurubis-Mitarbeiter. Der Konzern erklärte am Tag der Razzien: „Aurubis kann nach jetzigen Erkenntnissen ausschließen, dass Lieferanten und Kunden geschädigt wurden.“ Was zugleich bedeutet, dass der finanzielle Schaden der organisierten Bandendiebstähle zulasten des Unternehmens geht. Ob es später wenigstens einen Teil davon wieder eintreiben kann, bleibt vorerst offen.

Dass Unternehmen Opfer krimineller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden, ist weit verbreitet und zugleich ein schlecht ausgeleuchtetes Dunkelfeld. Im jüngsten Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität beziffert das Bundeskriminalamt (BKA) die Schadensumme in dem Bereich hierzulande auf zuletzt gut 2,4 Milliarden Euro im Jahr.

In einer vom Hamburger Kreditversicherungsunternehmen Allianz Trade (früher Euler Hermes) vor wenigen Monaten veröffentlichten Studie mit dem Titel „Wer hat Angst vorm schwarzen Schaf? Wenn Mitarbeiter ihr Unternehmen schädigen“, hat das Unternehmen von ihm regulierte Schäden ausgewertet und die Erkenntnisse weiterer Untersuchungen zusammengetragen.

36 Millionen Euro Schaden im größten Einzelfall 2021

Demnach waren 2021 bundesweit in deutlich mehr als der Hälfte der gut 51.000 bekannt gewordenen Fälle sogenannte Innentäter, also Firmenbeschäftigte, beteiligt. Auf ihr Konto gingen sogar drei Viertel des dabei verursachten Schadens. Der höchste 2021 bekannt gewordene Verlust für eine Firma durch einen Innentäter betrug nach Erkenntnissen des BKA immerhin 36 Millionen Euro.

Und laut der aktuellen Ladendiebstahlstudie des Handelsforschungsinstituts EHI gehen von den bundesweit insgesamt 4,6 Milliarden Euro sogenannter Inventurdifferenzen 920 Millionen Euro, also ein Fünftel, auf das Konto krimineller Beschäftigter.

Beim Prozess um Bestechlichkeit und Bestechung beim Hamburger Brillenkonzern Fielmann mussten sich insgesamt sieben Menschen vor dem Landgericht Kiel verantworten. Der Hauptangeklagte, ein ehemaliger Fielmann-Mitarbeiter wurde schließlich zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Beim Prozess um Bestechlichkeit und Bestechung beim Hamburger Brillenkonzern Fielmann mussten sich insgesamt sieben Menschen vor dem Landgericht Kiel verantworten. Der Hauptangeklagte, ein ehemaliger Fielmann-Mitarbeiter wurde schließlich zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. © picture alliance/dpa | Axel Heimken

„Wir wissen, dass ein nicht geringer Teil der Inventurdifferenzen durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verursacht wird“, bestätigt Brigitte Nolte, die Geschäftsführerin des Handelsverbands Nord in Hamburg.

In der Hansestadt dürften im Jahr 2022 demnach Verkäufer/-innen, Lagerarbeiter und Lkw-Fahrer ihrem Einzelhandels-Arbeitgeber Waren im Wert von mindestens 20 Millionen Euro geklaut haben.

Über alle Branchen hinweg verursachen sogenannte Innentäter in Hamburg – wie sich aus bundesweiten Daten errechnen lässt – um die 40 Millionen Euro Schaden binnen eines Jahres.

Kriminelle Mitarbeiter – die Dunkelziffer ist sehr, sehr hoch

Doch das ist die kleine Spitze eines wohl riesigen Eisbergs. Sichtbar ist nur das, was tatsächlich zu einem Ermittlungs- oder gar Strafverfahren führt. Schon die Frage, wie viele das sind, können die Staatsanwaltschaft und die Strafgerichte in der Stadt aber nicht beantworten. „Eine vollständige Statistik dazu liegt nicht vor und lässt sich nicht erstellen“, heißt es sinngemäß.

Auch Esko Horn, der Präsident des Arbeitsgerichts Hamburg, wagt keine Schätzung, wie häufig dessen Kammern über die arbeitsrechtlichen Nachwehen von tatsächlichen oder vermeintlichen Straftaten von Beschäftigten verhandeln. „Das kommt immer mal wieder vor, zumeist geht es um Kündigungen“, sagt der promovierte Arbeitsrechtler. Und der Anlass für die Entlassung sei häufig Diebstahl, bisweilen der Vorwurf des Arbeitszeitbetrugs.

Zuletzt habe es mehrere Verfahren gegeben, in denen der Kündigungsgrund Datendiebstahl lautete, so Horn. Ein Fall ist ihm besonders in Erinnerung: „Es ging um die Mitarbeiterin einer Unternehmensberatung, die sämtliche Unternehmensgeheimnisse, auf denen das Geschäftsmodell der Firma basiert, abgesaugt haben soll.“ Letztlich hätten sich Arbeitgeber und Beschäftigte auf eine Vertragsauflösung geeinigt.

Vor Gericht landet nur ein Bruchteil der Innentäter

Vor Gericht aber landet nur ein Bruchteil der Fälle. Die Dunkelziffer ist sehr, sehr viel höher. Diese Einschätzung teilen alle Gesprächspartner mit großer Nähe zum Thema, die das Abendblatt in den vergangenen Tagen befragt hat. Alle waren nur dann bereit, offen zu reden, wenn sie anonym bleiben. Tenor: Der Großteil der Vorkommnisse wird heimlich, still und intern geregelt.

Vor Gericht und damit öffentlich geht es nur dann, wenn sich wegen Diebstahls, Betrugs, Untreue Entlassene gegen die Kündigung wehren oder wenn Innentäter in ganz großem Stil zugegriffen haben. „Eine Strafanzeige ist für eine Firma in Fällen mit geringerer Schadensumme nur dann sinnvoll, wenn sie damit rechnen kann, nach einer Verurteilung Schadenersatz einklagen zu können. Oder wenn sie in die Belegschaft hinein ein Zeichen senden will“, sagt der Sprecher eines großen Unternehmensverbands. Ob sie das tut, sei Abwägungssache.

Bestechung bei Fielmann – Mitarbeiter erhielt 215 langstielige Rosen

Tatsächlich werden zumeist nur die ganz großen und aufsehenerregenden Fälle wie jetzt bei Aurubis bekannt. Vor einigen Jahren war der Konzern schon einmal zum Opfer geworden. Aus einem Hochsicherheitsraum kamen größere Mengen Gold weg. Bei Globetrotter ließ ein Angestellter Outdoor-Ausrüstung im Wert von 100.000 Euro mitgehen und wurde dafür zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Über einen langen Zeitraum soll der Konzern Aurubis von Mitarbeitern beklaut worden sein. Die Ermittlungen richten sich gegen mehrere Personen.
Über einen langen Zeitraum soll der Konzern Aurubis von Mitarbeitern beklaut worden sein. Die Ermittlungen richten sich gegen mehrere Personen. © dpa | Georg Wendt

Dreieinhalb Jahre Haft erhielt im Dezember 2022 ein ehemaliger Mitarbeiter des Hamburger Brillenkonzerns Fielmann, der für das Abzeichnen falscher Rechnungen 400.000 Euro Bestechungsgeld und Geschenke von einem Partnerunternehmen erhalten hatte.

Am Mittwoch begann in Hamburg ein weiterer Prozess gegen einen ehemaligen Fielmann-Mitarbeiter und seine Komplizen. Der Vorwurf auch hier: Bestechlichkeit und Bestechung. Der Hauptangeklagte hatte nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Hamburg die Zahlung von fingierten Rechnungen in Höhe von 800.000 Euro durch den Brillenkonzern abgenickt und im Gegenzug „Vorteile im Wert von circa 460.000 Euro“ erhalten, so die Ermittler: Luxusreisen, Helikopterflüge, Eintrittskarten für Premium-Sportveranstaltungen – und 215 langstielige Rosen.

Kriminelle Mitarbeiter – der Mantel des Schweigens ist groß und schalldicht

Geredet wird über Einzelfälle von den Firmen öffentlich nur dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Börsennotierte Unternehmen müssen das sogar tun, wenn der Schaden erheblich ist. Würden sie schweigen, würden sie sich selbst juristisch angreifbar machen. Aktionäre könnten auf Schadenersatz wegen Verheimlichung wesentlicher, gewinnrelevanter Ereignisse klagen. Im aktuellen Fall veröffentlichte Aurubis wenige Stunden nach Beginn der Durchsuchungen eine Stellungnahme, die vornehmlich die Anteilseigner beruhigen sollte. Weitere Fragen beantwortet der Konzern mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen derzeit nicht.

„Firmen haben kein Interesse, öffentlich als Opfer dazustehen“, sagt ein Hamburger Unternehmenssprecher mit vielen Jahren Erfahrung, über die große Schweigsamkeit beim Thema Innentäter. Auch er will seinen Namen und den seines Arbeitgebers nicht in der Zeitung sehen. Die Befürchtung betroffener Unternehmen: Zum materiellen kommt noch ein Imageschaden hinzu.

„In der Öffentlichkeit und bei Geschäftspartnern können viele Fragen entstehen: Was ist da los in der Firma? Hat sie keine ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen? Sind Mitarbeiter womöglich kriminell geworden, weil sie schlecht behandelt oder bezahlt werden? Hat die Personalabteilung bei der Einstellung Fehler gemacht?“, sagt der Kommunikationsexperte. Solche Zweifel versuche jedes Unternehmen unbedingt zu vermeiden.

Umfrage bei Hamburger Firmen – das große Schweigen

Wie großflächig und schwer der Mantel des Schweigens ist, den Firmen über Innentäter legen, belegt eine Umfrage des Abendblatts bei einem knappen Dutzend großer Hamburger Unternehmen. Damit die überhaupt antworten, war ausnahmsweise eine Anonymisierung in Aussicht gestellt. Gleichwohl reagierten fünf der Firmen gar nicht auf die Anfrage, zwei beantworteten den Fragenkatalog einsilbig und pauschal mit „keine nennenswerten oder besonderen Vorfälle“ in den vergangenen fünf Jahren.

Recht geschickt zog sich einer der Arbeitgeber mit den mehrdeutigen Worten, Innentäter seien „bei uns derzeit kein Thema“, aus der Affäre. Ein Unternehmen ließ wissen, man äußere sich grundsätzlich nicht dazu, ein anderes sagte schon kurz nach Erhalt der Fragen ab. Die Beantwortung sei „leider“ im gesetzten Zeitrahmen nicht möglich.

Nur eine der Firmen war bereit, sich anonym detaillierter zu äußern: Seit 2018 habe es „keine nennenswerte Fälle“ gegeben, in den vergangenen zehn Jahren nur ein bis zwei mit einer Schadensumme „im niedrigen fünfstelligen Bereich“. Eine Lagermitarbeiterin habe dabei mit externen Beschäftigten zusammengearbeitet. In Verdachtsfällen würden versteckte Überwachungskameras installiert.

Kriminelle Mitarbeiter – Chef bittet: „Beklau’ mich nicht andauernd“

Das Schweigegebot gelte auch firmenintern, sagt der Unternehmenssprecher. Die Kollegen erhalten keine oder eine andere Begründung, warum ein aufgeflogener krimineller Beschäftigter plötzlich nicht mehr da ist. „Es könnte ja etwas nach außen durchsickern, oder in der Belegschaft der Eindruck entstehen, dass die Folgen vergleichsweise glimpflich bleiben. Und natürlich gilt auch hier Daten- und Persönlichkeitsschutz.“ Die meisten Fälle würden geräuschlos abgewickelt.

Wie nachsichtig manche Arbeitgeber – wohl auch unter dem Eindruck des wachsenden Fachkräftemangels – mit Dieben in der Belegschaft sind, belegt eine skurril anmutende Wendung im Verfahren um die Kündigung des Beschäftigten eines kleineren Unternehmens, an die sich Arbeitsgerichtspräsident Horn gut erinnert. Der Mann, der gegen seine Kündigung klagte, hatte am Arbeitsplatz offensichtlich regelmäßig Arbeitsmaterial mitgehen lassen.

Doch der Unternehmer steckte in einer Zwickmühle. „In der öffentlichen Verhandlung sagte der Chef plötzlich: ,Ich will mich eigentlich gar nicht von dir trennen, aber hör doch bitte auf, mich andauernd zu beklauen.‘“ Die unausgesprochene Botschaft an den Dieb im Betrieb: Ein bisschen klauen ist akzeptabel – aber nicht mehr so häufig wie bisher. Der Mitarbeiter blieb.