Hamburg. Die Europäer dürften noch lange der weltgrößte Flugzeugbauer bleiben. Was die Gründe dafür sind, welche Probleme drohen.
Während seiner China-Reise in der vergangenen Woche hat Guillaume Faury das nächste Kapitel der Airbus-Expansionsgeschichte geschrieben. Der Vorstandsvorsitzende unterschrieb in Peking einen Vertrag über die Verdoppelung der Produktionskapazitäten für die A320-Fertigung. Statt einer soll es ab dem zweiten Halbjahr 2025 zwei Endmontagelinien im Airbus-Werk in Tianjin für den Bau des Verkaufsschlagers geben.
Der Dax-Konzern rüstet sich für weiteres Wachstum und dürfte seinen Vorsprung als weltgrößter Flugzeugbauer vor Boeing noch lange halten. „Airbus wird mindestens bis zum Ende des Jahrzehnts die Nummer eins bleiben“, sagt der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. Das Abendblatt analysiert die Gründe dafür, blickt auf Probleme, die Finanzlage und den Ausblick von Analysten.
Wer fertigt mehr Flugzeuge?
Viele Jahre lieferten sich die Erzrivalen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Mal hatte der US-Konzern die Nase vorn, mal die Europäer. 2018 gewann letztmals Boeing den prestigereichen Titel des weltgrößten Flugzeugbauers mit 806 ausgelieferten Fliegern, sechs mehr als Airbus. Dann änderte sich die Lage grundlegend. Im März 2019 stürzten zwei 737 Max ab, 346 Menschen kamen ums Leben. Als Folge darf der Jet fast zwei Jahre lang nicht starten. Airbus steigert 2019 seine Auslieferungen auf 863 Maschinen und wird erstmals seit 2011 wieder Branchenprimus, während Boeing nur noch 380 Maschinen übergibt.
Auch in den von Corona geprägten Folgejahren ändert sich an der klaren Vorherrschaft von Airbus wenig – und die Europäer tun viel, um den Thron zu verteidigen. Sie peilen nichts anderes an als eine Weltrekordproduktion. Derzeit werden etwa 50 Flugzeuge des Verkaufsschlagers A320-Familie pro Monat gebaut. Rund die Hälfte der Maschinen wird in Hamburg endmontiert. Das Werk in der Hansestadt mit seinen rund 15.000 Beschäftigten ist das Kompetenzzentrum für das Flugzeugprogramm. Ende nächsten Jahres sollen es 65 Flieger im Monat sein, 2026 sogar 75 pro Monat – so viele wie nie bei einem kommerziellen Flugzeugprogramm.
Die 737 ist das Boeing-Pendant dazu – und kämpft weiter mit den Folgen der Abstürze. Weil die Maschinen nicht abheben durften, konnten sie auch nicht an Kunden übergeben werden. Vorübergehend wurde die Produktion gestoppt. Nun will der US-Konzern das Programm bei einer Monatsrate von 31 Fliegern stabilisieren. In den Jahren 2025/26 solle sie dann bei annähernd 50 Maschinen liegen. Der Abstand von rund 20 Fliegern pro Monat dürfte sich also noch etwas vergrößern.
Ist die A320-Familie Boeings 737 überlegen?
Beim Blick in das Auftragsbuch lautet die eindeutige Antwort: ja! 3611 Bestellungen weist Boeing für die 737 aus. Viel – aber Airbus kommt auf Aufträge für 6075 Maschinen der A320-Familie. „Airbus ist ganz klar der dominierende Spieler bei den Flugzeugen mit einem Standardrumpf“, sagt Großbongardt und meidet bewusst die Bezeichnung als Kurz-, Mittel- und Langstreckenflugzeug. Der Grund: Die Grenzen verwischen.
Das liegt vor allem am Airbus A321XLR. Auf Finkenwerder wurden bisher drei dieser Maschinen gebaut, die sich nun in Flugtests befinden. Das Besondere an ihnen: Sie haben einen Zusatztank von fast 13.000 Litern im Frachtraum fest eingebaut. Dadurch werden zum Beispiel Nonstop-Strecken von Hamburg aus nach Vancouver ebenso möglich wie auf die Malediven – typische Langstrecken. „Der A321XLR ist ohne direkten Wettbewerber auf Boeing-Seite“, sagt Großbongardt. Zudem habe die Familie einen weiteren Vorteil: „Die A320-Familie bietet größeres Wachstumspotenzial.“
Der Airbus-Flieger steht im Vergleich zum US-Modell auf höheren Beinen, hat also ein höheres Fahrwerk. Das ermöglicht einen längeren Rumpf, weil das Heck bei Start und Landung nicht so schnell aufsetzt. Der A321 ist die um sieben Meter auf 44,50 Meter gestreckte Version des A320. Für die Fluglinien attraktiv: In einer typischen Zwei-Klassen-Kabine können nun 180 bis 220 Passagiere statt üblicherweise 140 bis 170 untergebracht werden.
Angesichts der engen Slots für Starts und Landungen an den Flughäfen macht das den A321 immer attraktiver, für ihn stehen 3682 Exemplare im Auftragsbuch, für den kleineren A320 „nur“ 2304. Viele Airlines wechseln von der kleineren Maschine auf die größte der Familie. Es passen also mehr Menschen an Bord bei ähnlichen Betriebskosten. Übrigens wurde der A321 jahrzehntelang ausschließlich in Hamburg gebaut. Künftig sollen alle zehn Endmontagelinien – davon vier an der Elbe – so umgebaut sein, dass das längste Familienmitglied auf ihnen zusammengeschraubt werden kann.
Aber auch die 737 sei „ein Topflieger“, sagt Großbongardt. Insbesondere gut geeignet für Fluglinien, die nicht ganz so viele Menschen über kürzere Distanzen befördern müssen. Denn die kleinere Maschine trägt ein geringeres Strukturgewicht mit sich, ist bei gewissen Passagiergrößen also effizienter.
Bei den noch kleineren Flugzeugen mit gut 100 bis rund 150 Sitzen ist Boeing ganz aus dem Spiel. Nach der Übernahme der C-Series vom kanadischen Hersteller Bombardier und der Umbenennung in A220 kämpft Airbus nun mit Brasilianern um die Vorherrschaft. Die Embraer 190 und 195 seien „hoch attraktive Flugzeuge“, so Großbongardt. Eigentlich wollte Boeing die Brasilianer übernehmen, sagte die geplante Fusion aber doch noch ab.
Fazit: Im Segment der kleineren Flieger ist der US-Konzern „deutlich hintendran“, sagt Großbongardt. Aber: „Man darf Boeing nicht abschreiben, denn bei den Großraumflugzeugen ist das Verhältnis umgekehrt.“
Wer baut mehr Großraumflieger?
Die (deutlich teureren) Großraumflugzeuge – also mit zwei Gängen in der Kabine – sind traditionell die Domäne Boeings. Für die 777 und 787 stehen 850 Bestellungen in den Büchern. Bei Airbus sind es für A330 und A350 Aufträge über 650 Flieger. Allerdings macht die US-Börsenaufsicht auch verschärfte Vorgaben, welche Aufträge ausgewiesen werden dürfen. Wenn ein Vertrag gekündigt werden kann, darf dieser nicht in der Statistik auftauchen.
Sowohl der 787 Dreamliner als auch die neue 777-X boten dazu aufgrund mannigfaltiger Produktionsprobleme und zeitweiser -stopps Anlass. Die Erstauslieferung der von der Branche sehnlich erwarteten 777-X verschob sich um Jahre nach hinten auf 2025. Die US-Amerikaner dürften also noch Order in der Hinterhand haben.
Beide Unternehmen wollen ihre Fertigung auch in diesem Bereich hochfahren. Boeing will vom Dreamliner Ende 2023 fünf Jets pro Monat bauen, zwei bis drei Jahre später wird die Rate zehn angepeilt. Bei der 777 soll es von drei auf vier Stück gehen. Airbus will beim A330 nächstes Jahr vier statt bisher drei Maschinen pro Monat bauen, vom A350 werden für Ende 2025 neun statt bisher sechs monatlich angestrebt. Endmontiert werden diese Modelle ausschließlich in Toulouse.
Ihre beiden größten Flieger nahmen beide Unternehmen aus dem Programm. Airbus lieferte im Dezember 2021 letztmals einen A380 aus. Boeing übergab Ende Januar die letzte 747 als Frachtversion an die US-Fluggesellschaft Atlas Air. Bei den Auslieferungen hatte Boeing im vergangenen Jahr hauchdünn die Nase vorn. 93 Großraumflieger lieferte der US-Konzern aus, Airbus einen weniger. Insgesamt verließen 480 neue Flugzeuge das Boeing-Gelände, bei Airbus waren es 661.
Im ersten Quartal hat der US-Konzern mit insgesamt 130 zu 127 Auslieferungen zwar leicht die Nase vorn. Im Laufe des Jahres dürfte sich das Kräfteverhältnis angesichts der angepeilten Produktionsraten aber drehen. Airbus peilt 2023 an, rund 720 Flieger an Airlines zu übergeben, Boeing mindestens 470.
Wo lauern Probleme?
Nach dem drastischen Zurückfahren der Produktion zu Beginn der Pandemie galt der erneute Hochlauf der Produktion als großes Problem. Schließlich bauten nicht nur die beiden Flugzeugbauer Personal ab, sondern auch Zulieferer. „Der Mangel an Arbeitskräften an allen Ecken und Enden ist ein gravierendes Thema“, sagt Großbongardt. Airbus wollte die Produktion einst schneller anziehen als jetzt geplant. Diese alten Ziele seien zu ehrgeizig gewesen, die nun angestrebte Rate aber realistisch – aber es droht ein neuer Flaschenhals.
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„Einer der größten Risikofaktoren sind die beiden Triebwerkhersteller“, so Großbongardt. Bei ihren spritsparenden neo- beziehungsweise Max-Fliegern sind sowohl Airbus als auch Boeing von ihnen abhängig. Zum einen sei es für die Turbinenbauer schwer, die Produktion so schnell wie benötigt hochzufahren. Zum anderen: „Es hat sich gezeigt, dass sowohl das Leap von CFM als auch das GTF von Pratt & Whitney nicht die Zuverlässigkeit haben wie die Vorgängergeneration“, so Großbongardt. Die Airlines haben mehr Wartungsaufwand und müssen mehr Reservetriebwerke vorhalten – und das in einer Zeit ohnehin angespannter Lieferketten.
Wie ist die finanzielle Lage? Was raten Analysten?
Vor allem die Probleme bei mehreren Flugzeugmodellen haben Boeing 2022 das vierte Verlustjahr in Folge eingebrockt. Unterm Strich lag das Minus bei 5,05 Milliarden Dollar (rund 4,6 Milliarden Euro). Airbus hakte die Corona-Krise überraschend schnell ab und toppte mit 4,247 Milliarden Euro Gewinn das Rekordergebnis aus dem Vorjahr um 34 Millionen Euro.
Die Airbus-Aktie hat nach einer ungefähren Drittelung des Kurses in der Pandemie deutlich zugelegt. Aktuell rangiert sie bei ungefähr 127 Euro und damit nahezu auf Vor-Corona-Niveau. Analysten sind über die weitere Entwicklung des Papiers aber gespalten. Laut dem Internetportal Finanzen.net raten vier Studien zum „Kaufen“, drei zum „Halten“, zwei zum „Verkaufen“. Goldman Sachs sieht das Kursziel bei 135 Euro und erwartet weiterhin eine starke Nachfrage sowie eine Verbesserung der Lieferketten. Die Berenberg Bank sieht hingegen keine Hinweise auf eine Erholung der Lieferketten, stuft das Papier auf „Verkaufen“ ein mit Kursziel 100 Euro.
Boeing notierte am Mittwoch bei rund 195 Euro (213 Dollar). Laut Finanzen.net stufen vier Analysten die Aktie auf „Kaufen“, zwei auf „Halten“. Goldman Sachs ist vom US-Flugzeugbauer überzeugt, führt die Aktie auf einer Liste mit Titeln, die Anleger im Depot haben sollten, und gibt bei einem Kursziel von 261 Dollar „Kaufen“ als Empfehlung. Angesicht der mannigfaltigen Rückschläge scheint das Erholungspotenzial bei der US-Aktie groß – das Rekordhoch liegt doppelt so hoch.