Hamburg. Bis 2035 sollen 160.000 Beschäftigte in der Hansestadt fehlen. Unternehmen haben Vorschläge, wie man jetzt gegensteuern könnte.
Gastronom Jens Stacklies hätte seine Belegschaft gern um ein indonesisches Ehepaar vergrößert. Zwei Tage lang arbeiteten beide in einem seiner Restaurants zur Probe. „Es war toll. Sie hätten sofort anfangen können“, sagt der Inhaber der Fischauktionshalle und der Gröninger Privatbrauerei. In Mecklenburg-Vorpommern absolvierte die Frau eine Lehre als Restaurantfachfrau, der Mann als Koch. Beide wären gern nach Hamburg gekommen, weil sie dort nur saisonal beschäftigt seien und hier Familie haben.
Das Problem: Zwar bestanden sie nach ihrer mehrjährigen Ausbildung die praktische Prüfung, aber nicht die Theorie. Stacklies sieht die Sprachbarriere als Ursache an, auch wenn er sich gut mit ihnen auf Deutsch und Englisch habe unterhalten können. Daher hätte er sie gern eingestellt, sprach mit der Handelskammer ab, dass das Ehepaar seine theoretische Prüfung in der Hansestadt nachholen kann. Aber das sei ihm verboten worden. „Die Eheleute überlegen jetzt, nach Hause zu fahren. Das kann doch nicht angehen“, sagt Stacklies: „Mir fehlt bei diesen Dingen der gesunde Menschenverstand.“
Fachkräftemangel im Hotel- und Gaststättengewerbe stark ausgeprägt
Im Hotel- und Gaststättengewerbe gilt der Fachkräftemangel als besonders ausgeprägt. Die Branche verlor während der Pandemie und den Zwangsschließungen massiv Personal. Mehr als 6000 Mitarbeiter würden den Betrieben in der Hansestadt fehlen, sagt Stacklies, der auch Vizepräsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) Hamburg ist.
Die Bundesregierung will nun gegensteuern. Ende November hat sie Eckpunkte für ein Zuwanderungsgesetz beschlossen, um mehr Ausländer für das Leben und Arbeiten in Deutschland gewinnen zu können. Bürokratische Hürden sollen ab-, das Jobmarketing im Ausland ausgebaut werden. Wer in seinem Heimatland eine zweijährige Ausbildung absolviert und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung gesammelt hat, soll auch dann in Deutschland arbeiten dürfen, wenn sein Abschluss formal nicht anerkannt wird.
Hamburger Firmen haben eigene Ideen
Voraussetzung dafür ist ein Arbeitsvertrag. Beispielsweise könnte ein Mechaniker auch als Lagerist angeworben werden. Nicht-EU-Bürger sollen zudem mit einer Chancenkarte einreisen und sich hierzulande einen Job suchen dürfen. Mögliche Parameter dabei sind Alter, Qualifizierung, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und Deutschlandbezug.
Grundsätzlich gehe der Vorstoß in die richtige Richtung, sagt Stacklies – und liegt mit der Einschätzung auf einer Wellenlänge mit Hamburger Firmen und Verbänden, ergab eine Umfrage dieser Redaktion. Doch die Firmen und deren Interessenvertreter haben auch eigene Ideen, um den Fachkräftemangel zu lindern.
Pflegefachkräfte aus dem Ausland
„Wir holen schon seit vielen Jahren aus dem Ausland Pflegefachkräfte und werden das auch in Zukunft machen“, sagt Asklepios-Sprecher Matthias Eberenz. Bisher wurde auf den Philippinen, in Mexiko oder im Iran erfolgreich um Mitarbeiter geworben. Das seien Länder, in denen es keinen Mangel an Personal in den Gesundheitsberufen gebe – während in Deutschland vor allem im intensivmedizinischen Bereich der Bedarf groß sei.
Der Krankenhauskonzern kooperiere zudem seit Jahren mit der Budapester Semmelweis Universität, um Medizinern nach dem Studium erst die klinische Ausbildung und später den normalen Berufsalltag hierzulande zu ermöglichen, sagt Eberenz: „Wir begrüßen Entwicklungen, die die Integration und Akquise von ausländischem qualifizierten Fachpersonal in Deutschland erleichtern.“
Airbus wieder auf Wachstumskurs
Nach dem coronabedingten Geschäftseinbruch und Personalabbau ist Airbus wieder auf Wachstumskurs. Im nächsten Jahr sind in Norddeutschland mehr als 1000 Einstellungen geplant. Der Flugzeugbauer versteht sich mit weltweit rund 130.000 Mitarbeitern aus mehr als 100 Nationen als multinationales Unternehmen. Auch in Hamburg sind Bürger aus mehreren Dutzend Staaten beschäftigt.
Entsprechend sei eine transnationale Personalrekrutierung und -entwicklung seit Jahrzehnten Standard, sagt Sprecher Heiko Stolzke: „Daher begrüßen wir grundsätzlich mehr Offenheit und Klarheit bei der Fachkräfteeinwanderung, Modernisierung von Einwanderungsregeln oder zum Beispiel Initiativen, um die Ausbildung zu stärken.“ Der Flugzeugbauer wünsche sich zudem einen verstärkten Fokus auf die MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, sowie eine internationale Anpassung der Studiengänge, insbesondere bei den Ingenieurberufen.
"Vorschläge gehen in die richtige Richtung"
„Die Vorschläge der Bundesregierung gehen in die richtige Richtung. Ohne sinnvolle und gesteuerte Fachkräfteanwerbung im Ausland, ist unser Demografieproblem nicht zu lösen“, sagt Matthias Boxberger, Vorstandsvorsitzender des Industrieverbandes Hamburg (IVH). Mittlerweile würden fast alle Unternehmen aus dem Bereich klagen, nicht genügend Fachkräfte zu gewinnen. Neben den Energiekosten und der Überbürokratisierung sei die Personalgewinnung die größte Herausforderung.
Die Pläne der Bundesregierung hinsichtlich des Zuwanderungsgesetzes reichen dem IVH-Chef allerdings nicht. „Außerdem brauchen wir optional längere Wochenarbeitszeiten, wie beispielsweise eine 42-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, als mögliches Mittel gegen den zunehmenden Mangel an Arbeitskräften“, sagt Boxberger. Dies würde die Rentenversicherung stabilisieren und könnte die Heraufsetzung des Renteneintrittsalter verhindern.
Lücke von sieben Millionen Fachkräften erwartet
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sieht bis zum Jahr 2035 in Deutschland eine Lücke von sieben Millionen Fachkräften. Die Handelskammer hatte unlängst ausgerechnet, dass in Hamburg bis dahin 133.000 Fachkräfte fehlen. Das sei jede sechste Stelle in der Hansestadt. Zudem würden 27.000 Kräfte in Helferberufen gebraucht – wenn nicht entscheidend gegengesteuert wird.
Daher gibt es von der Kammer Zustimmung zu dem Eckpunktepapier. Positiv sei, dass zum Beispiel eine anerkannte Qualifikation grundsätzlich zu jeder Beschäftigung in nicht reglementierten Berufen berechtigen soll, so Sprecherin Kerstin Kramer. Über die vorgeschlagenen Maßnahmen der Regierung hinaus, sollte man die Zuwanderung von potenziellen Auszubildenden stärken. Denn längst kann auch nicht mehr jede Lehrstelle besetzt werden.
„Die bürokratischen Mühlen mahlen langsam"
Bei der Suche im Ausland solle das weltweite Netz der Außenhandelskammern genutzt werden, um gezielt vor Ort nach Personal zu suchen. Nicht zuletzt müssten auch die Vorzüge und die Attraktivität der Elbmetropole bekannter gemacht werden, damit Fachkräfte in die Region kommen, sagt Kramer: „Denn wir befinden uns in einer Konkurrenzsituation mit anderen deutschen und europäischen Regionen und Metropolen.“
Die geplanten Neuregelungen seien richtig, müssten aber vor allem praktisch umsetzbar sein, heißt es vom Verband AGA, der mehr als 3500 Groß- und Außenhandelsfirmen sowie unternehmensnahe Dienstleister in Norddeutschland vertritt. „Trotz Fachkräfteeinwanderungsgesetz dauert es heute immer noch Monate, bis eine Person aus dem Ausland – obgleich den Arbeitsvertrag in der Tasche – in Deutschland tatsächlich den Job antreten kann“, sagt Hauptgeschäftsführer Volker Tschirch: „Die bürokratischen Mühlen mahlen langsam und zermürben die qualifizierte Zuwanderung. Das muss sich ändern, sonst verpuffen auch die besten Ideen.“
„Mir reicht es, wenn ein Mensch nett ist, kommt und will“
Zudem warnt er vor einem Dilemma. So bekomme ein Azubi in vielen Branchen zwischen 800 und 1000 Euro Vergütung. Durch die Mindestlohnerhöhung kämen viele An- und Ungelernte nun auf brutto 2100 Euro im Monat. Für viele Zuwanderer, die häufig Geld in die Heimat überweisen, sei die Entscheidung dann einfach. Sie verzichten „auf die dringend nötige Qualifizierung und die daraus entstehenden Karrierechancen“, die ihnen ein Ausbildung böte. Tschirch fordert eine „echte Willkommenskultur“ und sieht dabei sowohl Bevölkerung als auch Unternehmen in der Verantwortung.
Für Gastronom Stacklies wäre das eine Selbstverständlichkeit. Neue Mitarbeiter sucht er über Kontakte seiner Belegschaft in deren Freundes- und Familienkreis ohnehin schon international. „Mir reicht es, wenn ein Mensch nett ist, kommt und will“, sagt er: „Wir qualifizieren ihn dann.“ Für bereits Qualifizierte müsse allerdings die Anerkennung von Berufsabschlüssen erleichtert werden.
Fachkräftemangel: Wohnungssituation in Hamburg ein Hindernis
Er habe 40 Nationen in seinem Betrieb, für die Neuen gebe es ein Patensystem mit Sprachdolmetscher. 70 bis 80 Stellen könnte er sofort besetzen, in der Küche, in der Brauerei, in den Restaurants, im Catering und in der Zentrale. Zum Start erhielten sie pro Stunde mindestens 12,50 Euro und damit 50 Cent mehr als den Mindestlohn. Vollzeit starte man ab 2200 Euro brutto im Monat.
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Für viele Interessierte sei aber die Wohnungssituation in Hamburg ein Hindernis. Daher fordert er die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. In seinem Betrieb in Neuendeich (bei Uetersen) sei er schon aktiv geworden und habe Wohnungen angemietet, so Stacklies: „Wir sind am Überlegen, ob wir noch weitere Wohnungen anmieten und WGs aufmachen, damit wir den Start erleichtern.“