Hamburg. Martina Lembke arbeitet seit mehr als 30 Jahren für das Unternehmen. Ihre Filiale in Wandsbek soll geschlossen werden.

Es hat keine zehn Minuten gedauert, aber die haben das Leben von Martina Lembke komplett auf den Kopf gestellt. „Als unser Geschäftsführer mit stockender Stimme anfing zu sprechen, habe ich geahnt, dass wir auch dran sind“, sagt sie. Kurz bevor die Belegschaft von Karstadt Wandsbek vor gut einer Woche über die geplante Schließung ihres Hauses informiert wurde, war die 52-Jährige schon mit Vertretern aus dem Betriebsrat ins Chefbüro gerufen worden. Sie ist Schwerbehindertenvertrauensfrau. „Er hat die Namen der Hamburger Häuser auf der Streichliste vorgelesen. Es war wie ein Schlag ins Gesicht.“ Dann kamen die Tränen. Martina Lembke ist seit mehr als 30 Jahren bei Karstadt, im Augenblick arbeitet sie im Filialbüro. Daran, was sie nach der schicksalhaften Ankündigung gemacht hat, erinnert sie sich nur schemenhaft. „Tränen getrocknet, Gesicht gewaschen. Wir durften den Kollegen ja noch nichts sagen.“

Sie hat sich noch mal an ihren Schreibtisch gesetzt, die Maske vor das Gesicht gezogen und weitergearbeitet. Als ob das gerade nicht passiert war. Nicht hätte passieren dürfen. Um 14 Uhr ist sie zur Mitarbeiterversammlung ins Restaurant in der zweiten Etage des Karstadt-Hauses am Wandsbeker Markt gegangen. Und hat sich alles noch mal angehört. Dann durfte sie ihr Gesicht zeigen. Fassungslosigkeit, Trauer, Wut. „Da sind viele Tränen geflossen.“ In Wandsbek treffen die Schließungspläne des angeschlagenen Warenhaus-Konzerns Galeria Karstadt Kaufhof 110 Beschäftigte. Dazu kommen die Belegschaften der ausgegliederten Lebensmittelabteilung und des Restaurants mit 40 Personen – insgesamt 150 Männer und Frauen, die ihren Arbeitsplatz verlieren.

Mehr als ein Drittel der Karstadt- und Kaufhof-Warenhäuser soll geschlossen werden

„Es ist für mich immer noch unbegreiflich, dass das jetzt das Ende sein soll“, sagt Martina Lembke. Die Unternehmensleitung des erst im vergangenen Jahr fusionierten Handelskonzerns will im laufenden Sanierungsprozess mehr als ein Drittel der 172 früheren Karstadt- und Kaufhof-Warenhäuser in Deutschland dicht machen. Zudem stehen 20 der 30 Karstadt-Sports-Filialen vor dem Aus. In Hamburg sind sechs der neun Standorte auf der Liste: Karstadt Wandsbek und Bergedorf, die beiden Kaufhof-Filialen an der Mönckebergstraße und im Als­tertal-Einkaufszentrum sowie Karstadt Sports in der Innenstadt. Auch die Sports-Filiale in Harburg ist gefährdet. Bis heute weiß Martina Lembke nicht, warum es Wandsbek trifft. Sie sagt auch: „Wir kämpfen bis zum Schluss.“ Wahrscheinlich ist das Ende Oktober. Offiziell wurde noch kein Datum genannt.

Martina Lembke ist mit 20 Jahren ins Unternehmen gekommen. „Karstadt ist mein Leben“, sagt sie. Angefangen hat sie nach der Lehre als Verkäuferin in der Spielwarenabteilung in Kiel, damals noch im Hertie-Haus. „Das war ein Traumjob“, sagt sie – und in ihren Augen leuchtet die Begeisterung. Alles rund um Modellbau war das Fachgebiet der Kielerin, die eigentlich Kfz-Mechanikerin werden wollte. „Es war wie eine zweite Familie“, sagt Martina Lembke, und das schließt Kollegen und Kunden gleichermaßen ein. Wahrscheinlich würde sie auch heute noch dort arbeiten, wenn nicht ihr Lebensgefährte plötzlich gestorben wäre. „Ich konnte nicht in Kiel bleiben.“ Zu dem Zeitpunkt hatte der Kaufhaus-Konzern noch mehr als 200 Filialen in Deutschland.

Gebäude an der Wandsbeker Marktstraße ist der älteste Karstadt-Standort der Stadt

Die Karstädterin, wie sich die Mitarbeiter der Warenhauskette auch nach der Fusion mit Kaufhof immer noch nennen, machte erst eine und dann noch eine zweite Fortbildung, arbeitete als stellvertretende Abteilungs - und als Organisationsleiterin in Berlin, Dresden, Braunschweig, Düsseldorf, Essen und Mühlheim, bevor sie 2014 nach Hamburg-Harburg kam. Sie hat den Niedergang der Kaufhauskette hautnah erlebt, alle Krisen und Rettungsversuche mitgemacht. 2008 war sie in Berlin-Steglitz schon einmal von der Schließung einer Filiale betroffen.

„Damals war das aber kein Kahlschlag. Wir wurden auf andere Berliner Filialen verteilt.“ Karstadt war ein verlässlicher Arbeitgeber. Und auch als es 2009 bei der ersten Insolvenz, damals unter dem Dach des Handelskonzerns Arcandor, massive Einbußen für die Beschäftigten gab, kam ein Jobwechsel für Lembke nicht infrage. Genau wie für viele andere Beschäftigte nicht. Das hat sich auch im Laufe diverser Eigentümerwechsel bis zur Fusion mit Kaufhof 2019 nicht geändert. „Wir haben nach jeder Sanierung gedacht, jetzt haben wir es geschafft.“ Heute denkt sie natürlich schon manchmal, was sie alles für die Firma auf sich genommen hat, und fragt sich, warum sie das getan hat?

Seit 2018 ist Martina Lembke in der Wandsbeker Filiale. Und dort inzwischen richtig angekommen. „Wenn ich morgens durch das leere Haus gehe, fühlt sich das wie ein großes Wohnzimmer an. Schön.“ Das Gebäude an der Wandsbeker Marktstraße ist der älteste Karstadt-Standort der Stadt. 1892 hatte Ernst Karstadt die Firma beim königlichen Amtsgericht Wandsbek eintragen lassen. 1900 übernahm sein Bruder Rudolph Karstadt, Gründer der Kaufhauskette, das hoch verschuldete Unternehmen. 1924 wurde der Neubau mit damals 5240 Quadratmetern eröffnet.

Es wird mehr gekauft

Inzwischen ist die Verkaufsfläche hinter der markanten Säulenfassade dreimal so groß und verteilt sich über vier Geschosse. Martina Lembke hat fast zwei Jahre das Kassenteam organisiert, ist gerade erst ins Filialbüro gewechselt und bearbeitet Kundenbeschwerden. Meistens ist die Frau mit der freundlichen Stimme und der zupackenden Art schon vor 9 Uhr da. Sie kennt alle Abteilungen von Lebensmittel und Schreibwaren im Untergeschoss bis zu Spiel- und Haushaltswaren im zweiten Obergeschoss. „Das Haus ist gut strukturiert“, sagt sie.

Lange Historie

  • 1881 hat Rudolph Karstadt sein erstes Geschäft in Wismar eröffnet. Zahlreiche Filialen in Norddeutschland folgten, unter anderem 1903 in Eimsbüttel und Altona. Schon 1900 hatte Karstadt das Haus in Wandsbek übernommen.
  • 1912 wurde an der Mönckebergstraße das erste Großstadt-Warenhaus eröffnet. In der Wirtschaftswunderzeit expandierte Karstadt. 1997 gab es 17 Filialen in Hamburg. Seit den 2000er-Jahren ist der Konzern in der Dauerkrise. In mehreren Schließungswellen wurden etwa die Häuser in Altona und Eppendorf sowie zuletzt 2015 in Billstedt geschlossen.
  • Seit der Fusion mit Kaufhof gibt es noch sieben Warenhäuser in der Stadt. Aktuell stehen Wandsbek und Bergedorf auf der Streichliste sowie zwei Kaufhof-Filialen mit insgesamt 450 Mitarbeitern. Bleiben sollen: Karstadt in der Mö, Eimsbüttel und Harburg.

Es gibt viele Stammkunden. Seit der Schließungsplan bekannt geworden ist, reißen die Solidaritätsbekundungen nicht ab. Es wird auch mehr gekauft. Trotzdem sinken die Umsätze seit Jahren. Zuletzt hatte die Zentrale in Essen viel Geld bereitgestellt, Millionen Euro in neue Rolltreppen, den Umzug der Spielwarenabteilung und – nach Schließung des zweiten Hauses im benachbarten Einkaufszentrum Quarree Wandsbek – den Aufbau einer Sportabteilung investiert. Dann kam Corona und Karstadt Wandsbek war wochenlang ganz oder teilweise geschlossen. Die feierliche Eröffnung der neuen Sportfläche fiel aus. Auch Martina Lembke war in Kurzarbeit – zum ersten Mal in ihrem Leben.

Jetzt sollte es gerade wieder richtig losgehen. Stattdessen droht nun das Aus. „Es ist ein Schock“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Mark-Oliver Thöne. Noch ist nicht klar, wie es für die Beschäftigten weitergeht. Der dreimonatige Rettungsschirm, unter den sich Galeria Karstadt Kaufhof Anfang April im Zuge der Corona-Krise geflüchtet hatte, endet am 30. Juni. Parallel laufen Verhandlungen mit Vermietern, um Mietnachlässe zu erreichen und damit zumindest einzelne Häuser doch noch zu retten.

In Wandsbek arbeiten 40 Prozent der Belegschaft in Teilzeit

Trotzdem gehen Beobachter davon aus, dass der Konzern am 1. Juli ein reguläres Insolvenzverfahren einleitet. Laut Sozialplan, den Management, Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaft ausgehandelt haben, können die Beschäftigten für sechs Monate in eine Transfergesellschaft mit Beschäftigungs- und Qualifizierungsangeboten wechseln – freiwillig. Möglicherweise schon in der zweiten Juliwoche könnte auch bei Martina Lembke ein entsprechender Brief im Postkasten sein. Alternativ kommt noch im Juli die Kündigung mit einer vom Insolvenzrecht gedeckelten Abfindung in Höhe von maximal 1,5 Monatsgehältern. Ein wenig Zeit sollen die Mitarbeiter für ihre Entscheidung haben, die letztlich auch ein Schlussstrich unter ihr altes Leben sein wird.

Martina Lembke schüttelt den Kopf. Was soll das für eine Wahl sein? Gut 3000 Euro brutto verdient sie im Monat Damit liegt sie im Vergleich noch gut. In Wandsbek arbeiten 40 Prozent der Belegschaft in Teilzeit, drei Viertel sind Frauen. Nach 32 Jahren im Unternehmen fühlt sie sich ungerecht behandelt. „Wenn wir das nicht die ganzen Jahre mitgemacht hätten, gäbe es Karstadt doch schon lange nicht mehr.“ Auch deshalb hofft sie auf eine Rettung in letzter Sekunde. Auch für Wandsbek gibt es Gespräche mit dem Eigentümer, Union Investment. Der Fondsgesellschaft gehört auch das Quarree. Dem Vernehmen nach läuft der Mietvertrag bis zum Jahr 2025. „Wir suchen nach wie vor intensiv nach einer Lösung mit dem Insolvenzverwalter“, sagt Union-Investment-Sprecher Florian Hellbusch auf Anfrage. Wie weit die Parteien bei der Miethöhe auseinanderliegen? Dazu schweigt er.

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Die Beschäftigten wollen kämpfen. Es gibt eine Online-Petition für den Erhalt der Hamburger Häuser, die bereits mehr als 2500 Menschen unterschrieben haben. Weitere Protestaktionen sind geplant. „Wenn wir aufgeben und nichts tun, haben wir verloren“, sagt Martina Lembke. Das klingt zupackend und stark. Aber abends, wenn sie allein in ihrer Wohnung sitzt, kommt alles hoch. „Die Erinnerungen an gute Zeiten und die Angst vor der ungewissen Zukunft“, sagt sie – und dabei schießen ihr wieder Tränen in die Augen. Chancen, in einer anderen Filiale unterzukommen, rechnet Martina Lembke sich nicht aus. Und in der Corona-Krise werde es auch in anderen Unternehmen schwierig bis unmöglich, in ihrem Alter eine neue Stelle zu finden. „Ich bin 52 Jahre alt und war noch nie auf einem Arbeitsamt.“