Hamburg. Serie Kultläden, Teil 21: Sie haben ein spezielles Angebot, eine besondere Atmosphäre. Heute: Schuhmacher Carl-Heinz Schwartau.
Die junge Frau ist nicht ganz sicher, ob sie richtig ist in diesem Geschäft. „Können Sie so etwas auch reparieren?“, fragt sie und reicht einen schmalen Gürtel über den Tresen. „Kein Problem“, sagt Carl-Heinz Schwartau und trägt mit einem struppigen Pinsel Schnellkleber an der Stelle auf, an der sich der Gürtel in mehrere Lagen aufgelöst hat. Ein Geruch, der an Pattex erinnert, zieht durch den Laden. Derweil geht der Mann mit dem weißen Rauschebart zum Klönschnack über: „Sind Sie auf dem Weg zur Arbeit?“ „Ich besuche gleich eine Freundin, die vor Kurzem Mutter geworden ist“, sagt die Kundin.
Als Schwartau ihr den Gürtel zurückreicht, rät er: „Noch ein paar Minuten zusammendrücken.“ Geld? Will er nicht für das bisschen Arbeit und Klebstoff. „Grüßen Sie das Baby von mir“, ruft der Schuhmacher der Kundin hinterher, als die den kleinen Laden am Poelchaukamp sichtlich verblüfft von der unkomplizierten und obendrein kostenlosen Lösung ihres Problems wieder verlässt.
Kunden kommen sogar aus Kiel und Lübeck
„Schuh-Reparatur“ steht auf dem Leuchtschild zur Straße. Das beschreibt ziemlich genau, was Schwartau hier in Winterhude seit bald 50 Jahren tut: Sohlen erneuern, Hacken reparieren, so gut wie jede Art von Schuhwerk nähen, kleben, schleifen, polieren. Manchmal auch Taschen, Rucksäcke und Gürtel. „Ich habe Kunden, die sogar aus Kiel und Lübeck kommen, aus Norderstedt und Lüneburg. Das ist wohl ein Zeichen, dass sie zufrieden sind mit meiner Arbeit“, sagt der 73-Jährige.
Schwartau ist Inhaber und Einzelkämpfer. Vor ein paar Jahren hat er es noch mal versucht mit einem angestellten Gesellen. Es hat nicht gepasst. Heute, sagt der gelernte Schuhmacher, könne er sich den Lohn eines Mitarbeiters nicht mehr leisten. „Die Zahl der Aufträge ist wesentlich geringer geworden. Früher hatte ich 50, manchmal sogar 70 zahlende Kunden am Tag. Jetzt sind es oft keine 20 mehr.“ Das liege am Trend zu Billigschuhen, ist Schwartau überzeugt. Eine Reparatur lohne sich bei denen oft gar nicht oder sei mit den traditionellen Materialien des Handwerks nicht möglich.
„Viele Leute tragen ein Paar, bis sie es überhaben. Dann wird es weggeschmissen.“ Sicher ist: Die Zahl der Schuhmacherbetriebe in Hamburg sinkt kontinuierlich. Im Betriebsverzeichnis der Handwerkskammer waren im Jahr 2008 noch 94 Schuhmacher verzeichnet, zehn Jahre später 69.
Vom Karoviertel an den Poelchaukamp
Früher, das war 1967, als Schwartau im Karolinenviertel seine erste Reparaturwerkstatt eröffnete. Da war er Anfang 20. In die Lehre ging er, als er 14 Jahre alt war. „Vorher bin ich von der Schule geflogen, weil ich zu oft geschwänzt hatte.“ Auch in der Berufsschule wurde der Lehrling weniger häufig gesehen, als dort erwartet wurde. Erst beim dritten Lehrherrn beendete er die Ausbildung mit der Gesellenprüfung. „Einer von ihnen hat mir prophezeit, dass ich in diesem Beruf nie die Butter auf dem Brot verdienen werde.“ Er tut es bis heute.
Seit 1970 am Poelchaukamp. Schwartau übernahm ein Schuhmachergeschäft, das dort seit der Nachkriegszeit ansässig war, investierte einige Jahre später mehrere Zehntausend D-Mark in Maschinen und Inneneinrichtung. Seitdem ist im Laden – so scheint es – die Zeit stehen geblieben. Eigentlich ist das Geschäft, das zwei Treppenstufen unterhalb des Bürgersteigniveaus liegt, eher eine Werkstatt mit Kundenzugang. Die in die Jahre gekommenen Schleif- und Poliermaschinen stehen gleich hinter dem Tresen. Auf ihm stapeln sich Paare von Halbschuhen und Pumps, Stiefeln und Sandalen, die noch auf Reparatur oder Abholung warten. Und auf den ersten Blick wird deutlich: Schwartau betreibt ein Handwerk, das staubt und schmutzt. Das Ambiente ist rustikal. Und damit ein scharfer Kontrast zu Maklerbüros, Boutiquen und gehobener Gastronomie am Poelchaukamp.
„Ein Schuster wie im Bilderbuch“
Viele Kunden finden das offenbar besonders charmant. In Bewertungsportalen jedenfalls finden sich Einträge wie „Ein Schuster wie im Bilderbuch“, „wunderbar uriger Laden“, oder „Die Qualität ist toll, und die Preise sind absolut in Ordnung.“ Ein Paar neue Hacken kostet weniger als 20 Euro. Unfreundliche Kommentare finden sich in den Portalen zwar auch, aber nur einige wenige. Der Schuhmacher polarisiert. In den meisten Bewertungen bekommt er die Bestnote – in den anderen die schlechteste. Denn er kann wohl auch mal knorrig sein.
Sein Gewerbe betreibt er wie eh und je. Eine Homepage im Internet? Gibt es nicht. Kassiert wird nur Bargeld, Kartenzahlung ist nicht möglich. „Die Gebühren müsste ich auf meine Preise aufschlagen.“ Und auch die Öffnungszeiten sind wie aus der Zeit gefallen. Schwartau gönnt sich zwar seit einigen Jahren einen arbeitsfreien Montag. An vier Tagen in der Woche aber schließt er die Ladentür bereits um 7 Uhr auf – und sperrt sie erst zwölf Stunden später wieder zu.
Aktueller Mietvertrag läuft 2020 aus
„Manche Kunden kommen gerne morgens auf dem Weg zur Arbeit oder abends auf dem Heimweg“, sagt er. Für den Mann, der Ende Oktober seinen 74. Geburtstag hat, bedeutet das: Aufstehen nachts um 3.30 Uhr, Abfahrt Richtung Werkstatt spätestens um 5 Uhr. Der gebürtige Hamburger lebt auf einem Resthof bei Lüneburg. Mit drei Pferden und einem Hund. Wenn er dort gegen 20.30 Uhr wieder eintrifft, ist er an dem Tag alles in allem fast 140 Kilometer Auto gefahren.
Wie lange will er sich das noch antun? Carl-Heinz Schwartau findet, das sei die falsche Frage. „Ich muss weitermachen, die Rente allein reicht nicht“, sagt er. Die eigene Altersvorsorge sei – auch wegen einer teuren Scheidung – zu kurz gekommen. Aber ob er weitermachen kann und darf, ist unklar. Der aktuelle Mietvertrag für das Geschäft läuft 2020 aus. „Ich habe dem Vermieter signalisiert, dass ich gerne noch mal fünf Jahre verlängern würde.“ Eine Antwort habe er bislang nicht, sagt Schwartau. Es kann passieren, dass das fünfzigste Jahr, in dem er am Poelchaukamp Schuhe repariert, zugleich das letzte ist.