Teil 4: Fisch. Ein Ostseekapitän kämpft mit eigener Strategie gegen den Untergang der deutschen Küstenfischer.

Travemünde. Der Kapitän sucht sein Netz. Fieberhaft lässt Günter Koschwitz (48) den Scheinwerfer der "Jan II" über die pechschwarze, aufgewühlte Ostsee streifen. Die Brücke schwankt dabei, als hätten die Windgötter den kleinen Kutter gepackt und würden ihn nur so zum Spaß durch die Gegend schleudern. Längst sind Weingummitüten, Bücher und eine Angelrute auf dem Boden gelandet.

Endlich, kurz nach Mitternacht, kommt die erste Boje in Sicht. Eine verblichene, halb zerfetzte Fahne markiert die Stelle, an der Koschwitz vor gut zwei Stunden eines seiner Stellnetze ausgeworfen hat. Nun geht alles sehr schnell. Ein kurzes Nicken zum Fischerlehrling Thomas Irmscher (26) und schon holt der schlaksige, junge Mann die Boje an Bord. Die Motorwinde beginnt zu surren und hievt den Fang über die Reling: Der erste silbrig-graue Dorsch zappelt im Netz.

Tausende Male hat Koschwitz diese Prozedur schon hinter sich, vier- bis fünfmal in der Woche fährt er raus auf See. Schon seine Vorfahren sind von Schlutup und Travemünde aus zum Fischen aufgebrochen und er selbst hat sich, trotz eines kurzen Abstechers zur Marine, nie etwas anderes vorstellen können. "Ich wollte immer Fischer werden, immer."

Dabei gehört der Mann mit den freundlichen Augen und dem schütteren Haar unter der Baseballkappe einer immer kleiner werdenden Berufsgruppe an. Großzügig gerechnet gibt es vielleicht noch 3500 Menschen, die in Deutschland von der Fischerei leben, heißt es beim Deutschen Fischerei-Verband. Die Lage ist paradox: Während der Appetit der Bundesbürger auf Meeresfrüchte immer weiter wächst, hat sich die Fangmenge der deutschen Fischer seit 1970 nahezu halbiert. Was die Deutschen heute an Fischen, Krebsen und Weichtieren verputzen, stammt zu drei Vierteln aus dem Ausland.

Koschwitz' erster Fang in dieser Nacht ist eine Katastrophe. Einen Kilometer Netz hat der Kapitän ins Meer geworfen und gerade mal zehn Dorsche haben sich in den Maschen verfangen. "Schrecklich", stöhnt der Kapitän und befiehlt seinem Azubi, das Ganze gleich noch mal zu wiederholen. Die Boje fliegt erneut über Bord und das Netz saust hinterher. Wie ein glänzender, endlos langer Zitteraal springt es über die Fischkisten, um gleich darauf vom schwarzen Wasser verschluckt zu werden.

Fischen, das heißt vor allem: warten. Gegen 16 Uhr ist Koschwitz an diesem Nachmittag von Travemünde aus aufgebrochen. Ist immer ostwärts, Richtung Wismarer Bucht gestampft. Hat seine Füße mit den gestrickten Ringelsocken aufs Armaturenbrett gelegt und stoisch auf den Monitor seines Echolots gestarrt. Hat einen Krimi von Håkan Nesser gelesen ("Das grobmaschige Netz"). Hat wieder auf den Monitor gestarrt.

Kein Dorsch, nirgends.

Kurz vor Sonnenuntergang ist es dem Kapitän dann zu bunt geworden und er hat die Netze dort ausgeworfen, wo die Tiere um diese Zeit eigentlich sein sollten: auf den "Steinen" in der Wismarer Bucht. Dorsche lieben den Modder und verstecken sich dort tagsüber vor ihren Feinden. Abends beginnen sie, auf den steinigen Untergrund zu wandern und nur dann lassen sie sich mit dem Stellnetz einfangen.

Der zweite Fang in dieser Nacht ist deutlich besser als der erste. Jetzt zappelt sogar ein fast meterlanges Tier in den Maschen, doppelt so groß wie seine übrigen Artgenossen. Thomas Irmscher zückt sein Messer, um den gefleckten Riesen gleich an Bord auszunehmen. Als der Azubi dem Dorsch den Bauch aufschlitzt, steckt im Inneren noch ein kleiner, unverdauter Butt.

Der Plattfisch ist ein kurioser Beifang, doch Koschwitz geht in dieser Nacht auch ganz bewusst auf die Jagd nach Steinbutt und Flunder. Zwei seiner sechs Netze hat er extra für diese Fischarten ausgeworfen. "Ich fische gern gegen den Strom", sagt er. Soll heißen: Während sich seine Kollegen überwiegend auf den Dorsch konzentrieren, polnische Fangschiffe riesige Mengen davon anlanden und so die Preise verderben, weicht der Kapitän lieber auf andere, lukrativere Fischarten aus.

Vermutlich wird Koschwitz in diesem Jahr nicht mal seine von der EU festgelegte Dorsch-Fangquote von 48 Tonnen ausnutzen. "Bei einem Preis von 1,90 Euro das Kilo lohnt sich das einfach nicht", sagt er. Was der Fischer an Quote nicht braucht, gibt er an seine Kollegen von der Fischereigenossenschaft Travemünde weiter. Die holen dann entsprechend mehr Dorsche aus der Ostsee. "Täte ich das nicht, würde die EU meine Quote im nächsten Jahr kürzen", sagt Koschwitz.

Von einer Überfischung der Ostsee will der Kapitän aber trotz seiner Zurückhaltung beim Dorsch nichts hören. Dabei warnt die Umweltschutzorganisation WWF, dass der fortpflanzungsfähige Teil des Bestands im westlichen Teil des Meeres die kritische Grenze von 23 000 Tonnen unterschritten hat. In den 80er-Jahren waren die Bestände doppelt so groß. Laut WWF ist es ratsam, Dorsch nur ausnahmsweise zu essen.

Gegen 3.30 Uhr steuert die "Jan II" die letzten beiden Stellnetze mit den größeren Maschen für die Plattfische an. Hunderte Flundern und Steinbutt sind es, die jetzt auf dem nassen Deck des Kutters nach Luft schnappen. Azubi Irmscher sortiert routiniert die zu jungen, kleinen Fische aus, wirft sie über Bord, der Rest landet in grauen und grünen Plastikkästen.

Als die Sonne über der Ostsee aufgeht, sitzt Koschwitz auf der Brücke schon über dem Papierkram für die EU: 70 Kilo Dorsch, 50 Kilo Flundern, 30 Kilo Steinbutt schreibt er ins Berichtsbuch mit den vierfachen Durchschlägen. Dann schickt er eine SMS ans Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung, um sich von See zurückzumelden.

Verkaufen wird Koschwitz seinen Fang direkt vom Kutter aus. An Tagesgäste, die nach Travemünde kommen. Er hat auch eine Vereinbarung mit Geschäften und Restaurants, die die Fische direkt abnehmen. Früher hat der Kapitän seine Ware über die Genossenschaft abgesetzt. "Aber die karren die Fische meist nach Holland und dann krieg ich Preise, die ich nicht kalkulieren kann." Auf seine eigene Weise wird er an diesem Morgen rund 700 Euro einnehmen, abzüglich Diesel und anderer Kosten. "Mittelprächtig", meint Koschwitz.

Noch zahlt es sich für ihn aus, gegen den Strom zu fischen.