Aufgrund der umstrittenen Verfassungsreform hat die EU-Kommission ein Verfahren wegen Vertragsverletzung gegen Ungarn eingeleitet.

Straßburg/Budapest. Die EU-Kommission betritt im Streit mit Ungarn eine neue Eskalationsstufe. Nach wochenlangem Streit mit der ungarischen Regierung wegen der neuen Verfassung eröffnet die Brüsseler Behörde nun gleich drei Schnellverfahren wegen Verletzung der EU-Verträge gegen das Land. In letzter Konsequenz können diese zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und auch zu Geldstrafen führen.

„Ungarn ist ein Schlüsselmitglied der europäischen Familie. Wir wollen, dass nicht länger auch nur der Schatten eines Zweifels am Respekt für europäische Prinzipien und Werte über dem Land schwebt“, sagte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Dienstag in Straßburg.

Budapest hatte sich auf die rechtlichen Schritte der EU-Kommission bereits eingestellt. Orban kündigte nun einen Überraschungsbesuch im Europaparlament an: Er wird an diesem Mittwoch in Straßburg bei einer Debatte zu Ungarn sprechen. Vor allem aus den Reihen liberaler und sozialistischer Abgeordneter schlägt Orban heftige Kritik entgegen. Am kommenden Dienstag (24.1.) reist er zu Gesprächen mit der Kommission nach Brüssel.

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Grund für die Verfahren sind Zweifel an der Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank, der Justiz sowie der Datenschutzbehörde. Die Gesetze setzen die neue ungarische Verfassung um, die bereits bei ihrer Verabschiedung vor einem Jahr heftig umstritten war. So soll unter anderem das Ruhestandsalter für Richter zeitweise von 70 auf 62 Jahre heruntergesetzt werden. Die EU-Kommission erwägt ein weiteres Verfahren gegen Ungarn, weil sie eine Machtkonzentration auf einem zentralen Posten der ungarischen Justizbehörde befürchtet.

EU-Justizkommissarin Viviane Reding teilte mit, sie erwarte nun rasches Handeln von Budapest. „Nur tatsächliche Änderungen der fraglichen Gesetzgebung oder ihre sofortige Aussetzung werden den rechtlichen Bedenken der Kommission Rechnung tragen“, sagte sie.

Budapest machte in einer ersten Reaktion auf die Brüsseler Maßnahme Budapest deutlich, dass es zunächst seinen Standpunkt geltend machen möchte. „Ziel der Regierung ist es, auf die aufgeworfenen Fragen substanzielle und umfassende Antworten zu geben“, hieß es in einer Erklärung des Ministerpräsidenten-Amtes. Ziel sei es außerdem, „möglichst bald Lösungen für die problematischen Fragen zu finden, ohne dass das Vertragsverletzungsverfahren in seiner Gänze abgewickelt wird“.

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Besonders eckt Orban mit der neuen Gesetzgebung zur ungarischen Zentralbank an. Brüssel befürchtet, die Regierung könne zu viel Einfluss auf die laut EU-Recht unabhängige Institution gewinnen.

Um Änderungen zu erzwingen, üben EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) finanziellen Druck aus. Solange keine Änderungen am neuen ungarischen Zentralbankgesetz in Aussicht stehen, wollen die internationalen Geldgeber die Gespräche über dringend benötigte Hilfskredite für Ungarn nicht weiterführen – eine Position, die EU-Währungskommissar Olli Rehn nach der Entscheidung der EU-Kommission noch einmal bekräftigte. Er wird mit dem ungarischen Minister Tamas Fellegi am Freitag zu einem schon länger angekündigten informellen Treffen in Brüssel zusammenkommen.

Ungarn hat nur einen Monat Zeit, auf den Beschwerdebrief aus Brüssel zu reagieren – üblich bei solchen Verfahren sind zwei Monate. Danach kann die EU-Kommission eine Änderung der Gesetze verlangen. Kommt Ungarn den Forderungen nicht nach, kommt es zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof und möglicherweise zu Geldstrafen. Rehn hatte Ungarn im laufenden Defizitverfahren bereits mit Streichung von EU-Fördergeldern im kommenden Jahr gedroht.

(dpa/abendblatt.de)