Unternehmen ließ sogar E-Mails löschen. Gewerkschaftschef Weselsky stellt im Abendblatt den ganzen Vorstand infrage. Bilder von Hartmut Mehdorn.

Berlin/Hamburg. Es könnte Hartmut Mehdorns letzter großer Auftritt als Chef der Deutschen Bahn AG werden. Heute um 11 Uhr wird der 66-Jährige in Berlin die Bilanz des Logistikriesen für das vergangene Jahr vorlegen. Doch die vermutlich guten Zahlen für 2008 dürften dabei nur die wenigsten Pressevertreter interessieren. Wie wird er sich zu den neuesten Vorwürfen in der Spitzelaffäre äußern? Räumt er eine Mitwisserschaft ein? Nimmt der kantige Manager womöglich seinen Hut? Diese Fragen beschäftigen die Korrespondenten in den Hauptstadtbüros, weniger Details zu Umsatz, Gewinn und Mitarbeiterzahl. Dass es für Mehdorn beruflich immer enger wird, haben weitere Enthüllungen am Wochenende gezeigt. Auch die Bundesregierung rückt von dem von ihr viele Jahre als Sanierer geschätzten Bahnchef langsam ab.

Täglich kommen neue Details ans Licht, die zeigen, wie misstrauisch die Konzernspitze ihren Mitarbeitern lange Zeit gegenüberstand. Wie sie offensichtlich mit einem ausgeklügelten Spitzelsystem den E-Mail-Verkehr überprüfte und sogar unterband. Nicht nur elektronische Botschaften von Bahn-Beschäftigten an Journalisten und Konzernkritiker wurden penibel überprüft. Es wurden sogar E-Mails gelöscht. Ein Bahnsprecher räumte ein, dass das Unternehmen im Herbst 2007 eine über das Konzernsystem versandte Massen-Mail mit einem Streikaufruf der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) stoppte. An dem Tag sei der Mail-Server der Bahn zusammengebrochen. Bei der Ursachenforschung seien Techniker - zufällig - auf die Massen-Mail der GDL gestoßen. Danach "wurde entschieden, den nicht zugestellten Teil der GDL-Mail, einen Streikaufruf, nicht weiter zuzustellen", so der Sprecher. Dies sei eine inhaltliche Entscheidung gewesen. Denn den Versand des Aufrufs über den Bahnserver hielt das Unternehmen für rechtswidrig. GDL-Chef Claus Weselsky reagierte im Abendblatt "entsetzt". Er habe nach diesem Vorfall "kein Vertrauen mehr in den gesamten Vorstand" des Konzerns. Die Führungsetage müsse die Verantwortung übernehmen. "Ich bin der festen Überzeugung, dass zuerst Herr Mehdorn seines Amtes enthoben werden muss. Seinen Rücktritt verlange ich schon gar nicht mehr. Denn so wie ich ihn kenne, wird er von selbst nicht gehen. Deshalb müssen der Bund als Eigentümer und der Aufsichtsrat Konsequenzen ziehen." Zudem prüfe die GDL Strafanzeige wegen des Löschens der Mails. Die Begründung der Bahn für ihr Verhalten hält der Gewerkschafter für "fadenscheinig".

Die Mailkontrollen gehörten nach einem "Spiegel"-Bericht zu einem konzerninternen Projekt namens "Leakage", also "Informationsabfluss". Bereits ab Herbst 2004 soll nach Recherchen des Nachrichtenmagazins untersucht worden sein, welche Mitarbeiter Zugang zu Informationen hatten, die zuvor in kritischen Medienberichten aufgetaucht waren. Die Mails dieser Bahnmitarbeiter seien daraufhin untersucht worden, ob sie an verdächtige Adressen gingen. Sofern die Bahn Schreiben als zweifelhaft beurteilte, sollte der Mitarbeiter beurlaubt werden. Ab 2005 wurde eine Liste von acht unliebsamen Kontaktpersonen erstellt, welche die Bahn auf über 30 ausweitete. Es soll sich dabei um Verkehrsexperten, Bundestagsmitarbeiter und Medien wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ARD und ZDF gehandelt haben. Vollautomatisch soll die Bahn untersucht haben, ob E-Mails zwischen diesen Adressen und Mitarbeitern verschickt wurden. So sei ein Schriftwechsel mit dem Verkehrsexperten Gottfried Ilgmann beobachtet worden - dabei hatte der sich nur die Kosten für ein nicht benutztes Bahnticket zurückerstatten lassen.

Die Summe der Vorwürfe lässt die Linien der Mehdorn-Unterstützer in der Großen Koalition bröckeln. Längst verlangt die Opposition den Rückzug oder Rauswurf des Sanierers. Immer deutlicher macht auch Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), dass er den Bahnchef gerne los wäre - am besten noch vor der Bundestagswahl, damit die Sozialdemokraten wie bei seiner Berufung Einfluss auf die Personalie nehmen können. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit forderte: "Der Mann muss weg." Es sei einer "der größten Skandale", dass der Bahnchef immer noch im Amt sei, auch wenn er sich trotz seiner "Rambo-Attitüden" viele Verdienste um das Unternehmen erworben habe. Der SPD-Fraktionsvizechef Klaas Hübner sagte zu "FR-online.de", sollten sich die Vorwürfe erhärten, "dann wäre es für das Unternehmen besser, wenn man eine neue Lösung für den Vorstandsvorsitz suchen würde."

Und die Bundeskanzlerin? Angela Merkel gibt offiziell keine Statements ab. Doch als berichtet wurde, sie stehe hinter Mehdorn, mochte ihr Regierungssprecher das so nicht bestätigen - was einem Abrücken der CDU-Chefin gleichkommt. Regierungskreisen zufolge hat nach den neuerlichen Vorwürfen die Suche nach einem Nachfolger begonnen. "Es werden die Fühler für einen Nachfolger ausgestreckt", sagte ein Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur Reuters. Man sei sich dabei mit den Gewerkschaften einig, dass es angesichts der Wirtschaftskrise an der Spitze des Verkehrs- und Logistikkonzerns "keine Übergangslösung geben" dürfe. Daher könne die Suche eine Weile dauern. Dirk Fischer, CDU-Sprecher im Verkehrsausschuss, sagte dem Abendblatt, es sei "viel belastendes Material" aufgetaucht: "Das muss nun untersucht werden. Ehe es Entscheidungen geben kann, brauchen wir seriöse Aufklärung." Sollte etwa gegen das Post- und Fernmeldegeheimnis verstoßen worden sein, wäre das ein Fall für den Staatsanwalt.

Mehdorn selbst macht derweil nicht den Eindruck, als wolle er heute um 11 Uhr seinen Rücktritt freiwillig verkünden. Gegenüber der "Bild am Sonntag" stellte er klar: "Ich bleibe bei meiner Aussage, die ich immer gemacht habe: Durch die DB wurde niemand bespitzelt, weder Journalisten noch Aufsichtsräte, weder Politiker oder Gewerkschaften."