135 Fahrgäste unter Schock. Zwei von ihnen schildern im Abendblatt die dramatischsten Stunden ihres Lebens.
Fulda. Petra Birkenfeld (47) hatte in Hamburg einen Radiologen-Kongress besucht. Als der ICE 885 um 18.03 Uhr im Abendrot aus dem Hauptbahnhof rollt, ist die Röntgenärztin in Gedanken schon zu Hause in München. Hinter den Elbbrücken bei Tempo 200 schlägt sie die Zeitung auf. Andere dösen neben ihr in dem Waggon der 2. Klasse. Drei Stunden lang fährt der Hochgeschwindigkeitszug ganz ruhig.
Bis plötzlich ein gewaltiger Knall die 135 Reisenden hochschrecken lässt. Es ist genau 21.05 Uhr, als der ICE Hamburg München 15 Kilometer südlich von Fulda auf eine Schafherde prallt und im 10 779 Meter langen Landrückentunnel dem längsten Eisenbahntunnel Deutschlands bei Mittelkalbach zwischen Fulda und Würzburg entgleist. Zehn Waggons springen aus den Schienen und pflügen durchs Schotterbett. Vier Fahrgäste kommen mit Platzwunden und Knochenbrüchen ins Krankenhaus, 15 werden leicht verletzt. Bundespolizei- Sprecher Reza Ahmari: "Die meisten stammen aus Bayern, drei Fahrgäste aus Hamburg." Die wichtigste Frage: Wie kamen die Tiere dorthin? Der Schäfer Norbert W. behauptet, sie seien "getrieben" worden. "Schafe laufen nicht einfach auf Gleise!" Schon vor zwei Tagen habe es Probleme gegeben, weil Passanten seine Hunde von der Weide gejagt hätten.
Petra Birkenfeld nach dem Unfall geschockt: "Wir wurden richtig durchgeschleudert." Sie habe sich regelrecht an ihren Armlehnen festkrallen müssen. "Draußen flogen Metallteile herum. Scheiben zerbarsten. Dann flog eine Tasche an mir vorbei. Und ein Schuh." Ein paar Waggons weiter sitzt Nico Gelev (32). Der Sat.1-Mitarbeiter aus Nürnberg: "Ich dachte, jetzt ist es vorbei. "Ich war voller Panik, das war die absolute Hölle." Nach 60 Sekunden und 1200 Metern bleibt der Zug endlich stehen.
Die Radiologin: "Der Waggon war um etwa 45 Grad geneigt, alles voller Staub. Ich dachte, es sind Dämpfe und ich muss jetzt ersticken. Ich hatte Angst, dass der Zug explodiert." Durch die Zugtüren stolpern die Passagiere ins Freie. Die Zugbegleiter führen sie durch den Tunnel gegen die Fahrtrichtung zurück in den Nachthimmel über Fulda. Birkenfeld: "Ich bin noch immer grau von Kopf bis Fuß wie am 11. September in New York." Aus der Ferne hören die Passagiere Martinshörner, der Unfall hat Katastrophenalarm ausgelöst. Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen und Technisches Hilfswerk rasen mit 260 Rettern zum Tunnel.
Unter ihnen ist auch der Feuerwehrmann Joachim Riediger: "Wir haben höchstens zwei Stunden geschlafen", sagt er am Tag danach, "vor vier Jahren haben wir dieses Unfallszenario geübt." Die Passagiere werden mit Bussen ins Bürgerhaus von Mittelkalbach gebracht. Dort versorgt sie Bürgermeister Dag Wehner mit Tee, Kaffee und Wasser. "Es war relativ ruhig, die Leute haben das gut weggesteckt." Viele fragten sich nur:
Wie können ein paar Schafe einen tonnenschweren ICE aus den Schienen werfen? Ein Polizeisprecher: "Eine Herde von 20 Schafen wirkt wie eine Wand aus Tieren." Das sei etwas anderes, als wenn ein Hase oder ein Wildschwein auf den Gleisen stehe. Um 0.30 Uhr werden die unverletzten Fahrgäste nach Fulda gebracht, gegen 5.45 Uhr (sechs Stunden verspätet) kommt Petra Birkenfeld nach Hause erschöpft, aber glücklich. "Ich habe ein zweites Leben geschenkt bekommen!"