Bertrand Chapron vom französischen Meeresforschungsinstitut IFREMER erwartet, dass das Öl nächste Woche Florida erreichen wird.
Washington. Für Tausende von Fischern am Golf von Mexiko ist es ein neuer Schlag in die Magengrube. Die zuständige Washingtoner Behörde hat die Sperrzone für das Fischen in den Küstengewässern ausgeweitet. Rund 120.000 Quadratkilometer sind nun tabu, und vielleicht ist auch das erst der Anfang.
Möglicherweise über Jahrzehnte hinweg könne es nötig sein, Meerestiere und Meeresfrüchte auf mögliche Öl-Verseuchung hin zu testen, warnt die Nationale Behörde für Ozeanographie - kurz NOAA - schon jetzt. Öl enthält Chemikalien, die beim Verzehr in hoher Konzentration Krebs auslösen können. Bisher haben Untersuchungen keine derartig gefährliche Ansammlung ergeben, aber das kann sich natürlich ändern: Gute Nachrichten sind bei dieser Ölpest selten.
Vier Wochen ist es an diesem Donnerstag her, dass die Plattform „Deepwater Horizon“ versank und massenhaft Öl ins Wasser zu sprudeln begann. Mit immer neuen Mitteln hat der britische Ölriese BP seitdem versucht, den Austritt in 1500 Meter Tiefe einzudämmen und den Ölteppich auf der Oberfläche begrenzt zu halten.
Als kleiner Lichtblick gelang kürzlich das Legen einer Leitung in das abgerissene Hauptrohr, aus dem das meiste Öl sprudelt. Und seitdem kann ein Teil - wie durch einen Strohhalm - auf ein Schiff gesogen werden.
Als nächstes will BP das Bohrloch mit Schlamm und Zement beschießen. Aber die Zuversicht, dass auf diese Weise ein Versiegeln gelingen könnte, ist in den USA mehr als mau. Nach praktisch immer neuen Hiobsbotschaften trauen immer weniger Amerikaner es den BP- Experten zu, dass sie das Problem in den Griff bekommen - jedenfalls nicht rechtzeitig vor dem Eintreffen des „worst case scenario“, des schlimmstmöglichen Falls.
Der wäre, dass das Öl weiter volle Kraft voraus aus den beiden Lecks am Meeresgrund sprudelt. Bis es vielleicht Anfang August gelingt, das Hauptbohrloch mit Hilfe von Nebenleitungen zu entlasten und zu verstopfen.
Dabei weiß nach wie vor niemand genau, wie viel Öl täglich austritt. Die Schätzungen von unabhängigen Experten und von BP klaffen weit auseinander: 700 Tonnen täglich waren es laut dem Konzern bis vor wenigen Tagen. Nun seien es dank dem „Strohhalm“ im Steigrohr zwei Fünftel weniger. Wissenschaftler wie Steve Wereley von der Purdue University halten das für eine riesige Untertreibung. Mindestens die 14-fache Menge, so meint der Professor nach dem Studium von Unterwasser-Videos, sind seit dem 22. April täglich ins Wasser gelangt.
Neue Videos, die BP wie die ersten nur nach längerem Drängen von US-Medien erstellte und die zwei US-Senatoren am Dienstag präsentierten, geben wenig Grund zum Optimismus. Danach scheint es trotz Absaugens aus dem Rohr zu sprudeln wie am ersten Tag.
BP sagt, dass der Konzern sich nicht mit konkreteren Messungen der Menge aufhalten will - die Eindämmung der Ölpest habe Vorrang.
Das macht viele natürlich noch misstrauischer, dass hier etwas vertuscht, geschönt werden soll. Wenn man davon angesichts des bereits katastrophalen Ausmaßes überhaupt sprechen kann.
Das US-Innenministerium, das wegen lascher Regulierungen und Kontrollen der Ölindustrie in die Schusslinie geraten ist, sagt, dass es keine andere Wahl hat, als sich auf BP zu verlassen: Man habe nicht die Mittel zum Messen und Filmen, über die der Konzern verfüge.
Mittlerweile haben Wissenschaftler riesige Öl-Schwaden unter der Wasseroberfläche entdeckt. Direkt an der Quelle eingesetzte Chemikalien zum Zersetzen könnten das Aufsteigen an die Oberfläche verhindert haben. Aber das macht die Sache nicht weniger gefährlich. Manche Kleintiere am Ende der Nahrungskette könnten vielleicht überleben, sagt Wissenschaftlerin Lisa Suatoni von der Umweltgruppe Natural Resources Defense Council. „Aber jedes Tier, das sie frisst, könne eine gefährliche Dosis giftiger Stoffe aufnehmen.“
Und ein neues Schreckgespenst ist aufgetaucht, es wird zunehmend größer. Die Öl-Schwaden könnten in eine Strömung gezogen werden, „Loop Current“ genannt, eine warme Wasserstraße, die aus der Karibik kommt, im Golf von Mexiko eine Kurve macht, um dann später in den offenen Atlantik zu führen.
Die NOAA glaubt, dass bisher kein Öl die Strömung erreicht hat. Aber Aufnahmen eines Satelliten der Europäischen Raumfahrtorganisation sprechen eine andere Sprache. So erwartet Bertrand Chapron vom französischen Meeresforschungsinstitut IFREMER, dass das Öl nächste Woche Florida erreicht - das wäre eine große Gefahr für die dortigen Korallenriffe.