Hamburg. Stürmer des FC St. Pauli erzielte sein letztes Ligator im April. Wie er auf die Situation blickt – und welche Rolle Psychologie spielt.
Der 21. April liegt mittlerweile 212 Tage zurück. Der FC St. Pauli spielte an jenem Sonntagnachmittag bei Hannover 96 – und feierte dank eines Kopfballtreffers von Johannes Eggestein einen wichtigen 2:1-Sieg im Aufstiegskampf der Zweiten Liga. Drei Wochen später konnten Eggestein und Co. dann auch endgültig über die Rückkehr ins Oberhaus jubeln. Über ein Tor in einem Ligaspiel würde der Stürmer derweil auch gerne mal wieder jubeln, gelungen ist es dem 26-Jährigen seit dem Hannover-Spiel allerdings nicht mehr.
„Mich beschäftigt meine persönliche Torbilanz nicht wirklich, weil ich mir meiner Rolle in der Mannschaft bewusst bin“, sagt Eggestein, als er vor dem Auswärtsspiel bei Borussia Mönchengladbach (So., 17.30 Uhr/DAZN und Liveticker auf abendblatt.de) in einem Büro im Trainingszentrum an der Kollaustraße sitzt. „Natürlich wünscht man sich als Stürmer auch mal ein Erfolgserlebnis in Form eines Tores. Trotzdem ist mein Spiel auch zu einem großen Teil darauf ausgerichtet, die Defensive zu stärken und in den Umschaltmomenten eher einen wichtigen Pass zu spielen als selbst in die Abschlusssituation zu kommen.“
FC St. Pauli: Eggestein wegen seiner Defensivarbeit weniger torgefährlich
Nach zehn Spieltagen sind die Kiezkicker der einzige Bundesligist, bei dem mit Ausnahme von Joker Andreas Albers gegen Hoffenheim (2:0) noch kein Mittelstürmer getroffen hat. Das bisher letzte Erfolgserlebnis in einem Pflichtspiel hatte Eggestein Mitte August in der ersten DFB-Pokalrunde beim Regionalligisten Hallescher FC (3:2 n.V.).
Mit durchschnittlich 46 Pässen ins Angriffsdrittel und 15 Aktionen im Strafraum ist St. Pauli zwar immer regelmäßig in der gefährlichen Zone, kommt dennoch im Ligavergleich zu den drittwenigsten Abschlüssen (9,5 pro Spiel). Zudem haben die Hamburger die geringste durchschnittliche Torwahrscheinlichkeit pro Schuss (8,8 Prozent/Ligaschnitt 13 Prozent). Und mit einem Expected-Goals-Wert von 9,0 aus den ersten zehn Bundesligaspielen sind die Kiezkicker Liga-Schlusslicht.
St. Pauli sucht die richtige Balance zwischen Offensive und Defensive
„Es ist nicht immer so einfach, die richtige Balance zwischen defensiver Stabilität und Offensivpower zu finden. Weil wir eher tief stehen, haben wir nicht die hohe Anzahl an Chancen. Man kann das aber auch positiv auslegen und sagen, dass wir trotz eines niedrigen Expected-Goals-Wertes schon einige Punkte geholt haben und auch noch mehr hätten holen können“, hält Eggestein dagegen.
Tatsächlich ist unbestritten, dass der Aufsteiger über eine enorm stabile Defensive verfügt – und eben auch nominelle Stürmer wie Eggestein über weite Strecken eines Spiels defensiv denken sollen. „Ich bin von meinen Stürmern überzeugt, weil sie sehr viel arbeiten. Natürlich geht das auch teilweise auf Kosten der offensiven Qualitäten“, sagte Trainer Alexander Blessin in der vergangenen Woche im Abendblatt-Podcast „Millerntalk“. Eggestein sei für ihn der „Sturmführer“, der mit seinem cleveren Anlaufverhalten auch seine Nebenleute führe.
„Ich bin gerne bereit, mich in den Dienst der Mannschaft stellen, wenn es auch eine Wertschätzung für meine Defensivarbeit gibt. Da habe ich absolut das Gefühl, dass das auch der Fall ist“, sagt Eggestein. „Es kommt in der Bundesliga so gut wie nie vor, dass man mal zehn Meter Platz hat. In der Zweiten Liga hatte ich das Gefühl, dass man auch mal aus dem Nichts in freie Situation kommen konnte. Da habe ich mich manchmal umgeschaut und war völlig überrascht, wie ich so frei sein kann.“
Mönchengladbachs Tim Kleindienst steht bereits bei sechs Saisontoren
Mönchengladbachs Tim Kleindienst, mittlerweile auch deutscher Nationalstürmer, kommt in der laufenden Bundesligasaison bereits auf sechs Tore. In der vergangenen Saison hatte er bereits Aufsteiger Heidenheim mit zwölf Saisontreffern nicht nur in der Liga gehalten, sondern entscheidend mitgeholfen, den Außenseiter bis in die Uefa Conference League zu bugsieren. „Die Entwicklung, die Tim Kleindienst gemacht hat, ist sehr beeindruckend. Ich hatte bei ihm auch immer das Gefühl, dass er sich nicht nur über Tore und Vorlagen, sondern auch über seine Mannschaftsdienlichkeit definiert hat. Er schafft es, diese Balance zu finden“, sagt Eggestein.
Seine ganz persönliche Balance findet der frühere Junioren-Nationalspieler in der HafenCity. An der Medical School Hamburg (MSH) studiert Eggestein derzeit im dritten Semester Psychologie – und das Toreschießen ist ja häufig auch Kopfsache. „Mein Studium hilft mir, ausgeglichener zu sein. Psychologie ist total spannend, weil man auch viele Zugänge zu sich selbst finden kann. Ich kann mir auch vorstellen, nach der Fußballkarriere in dem Bereich zu arbeiten. Ob das dann in der Sportpsychologie, klinischen Psychologie, Wirtschaftspsychologie oder auch biologischen Psychologie sein wird, weiß ich noch nicht“, sagt er.
Eggestein studiert Psychologie an der MSH
Zwei- bis dreimal pro Woche fährt Eggestein nach den Trainingseinheiten zu der privaten Hochschule, wo Anwesenheitspflicht herrscht. „Anfangs wurde ich nicht angesprochen, mittlerweile ist es bekannt, wo ich Fußball spiele. Da wird man dann auch mal angesprochen. Insgesamt sind aber alle sehr lieb und vorsichtig“, sagt Eggestein, der pro Semester drei bis vier Module schafft. Dass die Regelstudienzeit eigentlich sechs Module pro Semester verlangt, ist egal – St. Pauli geht schließlich immer noch vor.
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Bei den Kiezkickern hat der gebürtige Hannoveraner seine sportliche Heimat gefunden, nachdem er als Talent bei Werder Bremen bis auf einen zwischenzeitlichen Marktwert von 10 Millionen Euro gehypt worden war und in der Folge beim Linzer Athletik-Sport-Klub (LASK) in Österreich sowie bei Royal Antwerpen in Belgien eine sportlich schwierige Zeit hatte.
„Ich habe mich schon immer gefragt, wie man bei mir auf die Bewertung von 10 Millionen gekommen ist“, sagt Eggestein und lacht. „Ich würde es nicht anhand meines Marktwerts bewerten, habe aber schon das Gefühl, dass ich mich bei St. Pauli in den vergangenen ein, zwei Jahren richtig eingelebt habe. Ich bin hier viel konstanter in meinen Leistungen geworden, auch weil mir der Verein vertraut.“ Und weil eben nicht nur Tore zählen.