Hamburg. Mit der Unterstützung seiner Tochter baute St. Paulis Trainer von Beginn an eine gute Beziehung zu den Verantwortlichen auf.
An Ella kommt Alexander Blessin nicht vorbei. Als der Trainer des FC St. Pauli vor der Aufnahme des „Millerntalk“-Podcasts zum Termin im Foto-Studio geht, bleibt er beim ein Jahr alten Bretoner-Mischling – zugegebenermaßen einer der süßeren Bürohunde der Abendblatt-Redaktion am Großen Burstah – stehen, kniet sich hin und gönnt dem Vierbeiner eine ausgiebige Streichel- und Krauleinheit.
Ellas Vorteil ist dabei wohl nicht nur, dass sie braun-weißes Fell hat, sondern auch, dass der St.-Pauli-Coach einfach ein überaus herzlicher Mensch ist. Im Hause Blessin seien Hunde, die man ausschließlich aus dem Tierschutz zu sich genommen habe, allgegenwärtig, erzählt er. Auch als der 51-Jährige nach dem Fototermin und einer weiteren Streicheleinheit für Ella im Podcast-Studio sitzt, wird schnell deutlich, auf welche Dinge er in seinem Leben Wert legt.
St.-Pauli-Trainer Blessin pendelt zwischen Stuttgart und Hamburg
„Fußballtrainer zu sein, ist kein familienfreundlicher Beruf“, sagt Blessin, dessen Ehefrau Charlotte mit den Töchtern Franziska, Victoria und Patricia weiterhin im Raum Stuttgart lebt. Ohne den Rückhalt seiner Familie, sagt Blessin, könne er seinen Trainerjob nicht machen. Jede zweite Woche besucht er seine Familie in der schwäbischen Heimat, zu den Heimspielen kommen seine Liebsten dann zu ihm nach Hamburg.
„Es war und ist mir wichtig, dass man sich jede Woche sieht. Während meiner Zeit in Italien war das beispielsweise nicht immer möglich, obwohl meine Familie da auch sehr verrückt war. Sie sind teilweise an einem Freitag mit zwei Hunden und einem Hamster 13 Stunden lang im Auto zu mir nach Genua gefahren“, erzählt Blessin und schmunzelt.
Blessin arbeitete einst als Versicherungskaufmann
Nach dem Ende seiner aktiven Karriere, in der es der frühere Stürmer zumindest auf sieben Bundesligaeinsätze für den VfB Stuttgart brachte, arbeitete Blessin zunächst als Versicherungskaufmann, kümmerte sich mit einer Allianz-Agentur unter anderem um Versicherungen in der Motorsportserie Porsche Sports Cup.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits etliche Trainerlehrgänge absolviert, sich bis zur A-Lizenz hochgearbeitet. „Es war aber nicht so, dass überall Angebote herkamen“, erzählt Blessin. „Ich habe 15 Jahre lang Fußball gespielt, aber nicht wie Effenberg die Millionen verdient. Ich musste gucken, dass ich weiter Geld verdiene und für meine Familie sorge.“
Ein Anruf von Ralf Rangnick veränderte alles
Erst ein Gespräch mit seiner Frau („Willst du wirklich für immer als Versicherungskaufmann arbeiten?“) und ein unerwarteter Anruf von RB-Macher Ralf Rangnick führten ihn 2012 in den Nachwuchs von RB Leipzig. Die Familie blieb dennoch in Süddeutschland wohnen, auch als er Profitrainer bei KV Ostende (Belgien), in Genua und schließlich bei Royale Union Saint-Gilloise (wieder Belgien) wurde.
„Ich bin froh, dass wir immer diese Basis hatten, weil das Fußballgeschäft sehr schnelllebig ist. Die Kinder hatten ihre Schule, ihre Freunde, ihren Sport und ihr gewohntes Umfeld“, sagt Blessin. „Wenn ich dann nach Hause komme, bin ich froh, dass es auch genug Themen abseits des Fußballs gibt.“ Dann geht es um die Leichtathletik-Wettbewerbe der Töchter, das Lehramtsstudium von Franziska, die Schulthemen von Patricia.
Regelmäßige Telefonate mit seiner Familie
Auch an Spieltagen ist seine Familie präsent, eine Stunde vor Anpfiff gibt es vom Stadionrasen aus einen Facetime-Anruf. „Genauso ist es auch unser Ritual, abends vor dem Schlafengehen noch kurz miteinander zu telefonieren. Morgens nach dem Zähneputzen ist es genauso“, sagt Blessin. „Und über den Tag hinweg weiß ich gar nicht, wie oft wir da telefonieren.“
Das ist nicht einfach so dahingesagt, auch nach dem Podcast geht Blessins erster Griff zu seinem Handy, um seiner Frau Charlotte von der Aufnahme zu erzählen, das Studio zu zeigen und ihr die Abendblatt-Reporter vorzustellen. Wie eng die Bindung zu seiner Ehefrau ist, zeigt auch ein Schicksalsschlag im August 2023, als Charlotte infolge eines Schlaganfalls einen Rückenmarksinfarkt erlitt und seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen ist.
Der Abschied von Saint-Gilloise fiel ihm nicht leicht
Blessin, der erst wenige Wochen bei Union Saint-Gilloise unterschrieben hatte, dachte sofort daran, den Trainerjob aufzugeben. Doch Charlotte überzeugte ihn, weiterzuarbeiten. Bei einem Heimspiel gegen Racing Genk am Ende der Saison spielten hielten die Union-Fans ein großes Banner hoch: „Behind every man there is a strong woman. Danke Charlotte. Danke Alexander.“
Es waren auch emotionale Momente wie dieser, aber auch Erfolge wie der Pokalgewinn und die Vizemeisterschaft, die Blessin im Sommer ins Grübeln brachten, ob er von dem Brüsseler Erfolgsclub zu St. Pauli gehen soll. „Die Entscheidung fiel mir auf jeden Fall nicht leicht, wir standen kurz vor der Vorbereitung, hatten die Planungen schon fast abgeschlossen“, sagt er.
Für Bornemann und Sandmann gab es Käsekuchen auf der Terrasse
Durch die Dreifachbelastung von Liga, Pokal und Europa League kam Blessin am Ende der vergangenen Saison auf 58 Pflichtspiele mit dem belgischen Topclub. Hinzu kamen die ständigen Reisen in seine Heimat, die Freizeit beschränkte sich auf ein Minimum „Das war sehr, sehr kräftezehrend“, sagt Blessin. „58 Spiele gehen nicht spurlos an einem vorbei.“
Kurz nach dem ersten Anruf von Andreas Bornemann lud Blessin den St.-Pauli-Sportchef zu sich nach Hause ein. „Andreas saß dann mit Jan Sandmann (Chefscout, d. Red.) bei mir auf der Terrasse und es gab einen schönen Käsekuchen. Meine Tochter hat ihnen noch einen leckeren Kaffee gekocht, alles hat sofort gepasst“, erzählt Blessin. Wenige Tage später war er bereits zum Gegenbesuch in Hamburg. „Der Käsekuchen scheint ihnen geschmeckt zu haben“, sagt er und lacht.
Blessin: „Ich bin schon ein kleiner Hamburg-Fan geworden“
St. Pauli hatte ihn schnell überzeugt, Hamburg sowieso. „Die Hamburger sind ein hammerfreundliches Volk, wir sind super aufgenommen worden. Dass meine Kinder jede zweite Woche so gerne nach Hamburg kommen, freut mich sehr. Es war mir sehr wichtig, dass die Familie so gut eingebunden ist“, sagt Blessin, der in Lokstedt nicht nur eine Wohnung, sondern auch schon einen Lieblingsitaliener gefunden hat. Wenn es die Zeit zulässt, geht der 51-Jährige mit seiner Familie am liebsten an der Außenalster spazieren: „Ich bin schon ein kleiner Hamburg-Fan geworden.“
Auch die politische Haltung seines neuen Arbeitgebers gefalle ihm. Anfangs habe er sich noch ganz bewusst nur auf den Sport konzentriert, aber „wenn man zu so einem Verein kommt, muss man auch Farbe bekennen und Statements abgeben“, sagt er. „Ich finde es gut, dass man klare Kante zeigt. Auch in der Erziehung meiner Mädels sind es extrem wichtige Punkte für mich, seine Meinung zu sagen und standhaft zu sein. Es gibt für mich nichts Schlimmeres als Ungerechtigkeiten.“
St. Paulis Trainer ist auch politisch interessiert
Der Fußballlehrer ist politisch interessiert, verfolgte das Ampel-Aus in Berlin genauso wie die Präsidentschaftswahl in den USA. „Ich bin sehr wissbegierig, gucke da auch sehr nach Amerika. Es ist wichtig, was dort passiert, das ist ein wichtiger Handelspartner“, sagt Blessin, der mit seiner Empathie und Führungsstärke möglicherweise auch ein guter Politiker geworden wäre.
„Der Druck ist in beiden Jobs groß, es geht jeweils um das Erreichen von Zielen. Bei uns ist die Leistung wöchentlich sichtbar, in der Politik ist es eher etwas langfristiger. Vielleicht bin ich durch die Schnelllebigkeit in meiner Branche etwas mehr unter Druck als die Politiker“, sagt er.
„Das geht mir gegen den Strich...“
Ehrlichkeit und Gerechtigkeit sind zentrale Werte im Leben des Bundesligatrainers. Deshalb nervt ihn derzeit auch das Verhalten mancher Politiker. „Mir geht es gegen den Strich, wenn man immer mit dem Finger auf andere zeigt, insbesondere dann, wenn die Wahlen kommen. Mein Wunsch wäre, mehr auf die eigenen Stärken zu verweisen“, sagt Blessin. „Das ist ein leidvolles Thema, das mich maßlos ärgert.“
Abgesehen von seinem fußballerischen Wissen ist die größte Stärke des dreifachen Familienvaters wohl seine Empathie und das Gefühl für eine Gruppe. „Mein Bauchgefühl hat mich nie verlassen“, sagt Blessin. „Als ich zum Beispiel nach Genua gekommen bin, hatten wir nur zweimal Training bis zum ersten Heimspiel gegen Udine. Als wir dann am Freitagabend vor dem Spiel im Mannschaftshotel waren, stand auf jedem Tisch eine Flasche Rotwein.“
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Anstatt ein professionelleres Verhalten einzufordern, biss sich der neue Coach damals auf die Zunge. „Wenn ich da ein Fass aufgemacht hätte, hätte ich die Mannschaft gleich schon verloren“, sagt Blessin. „Wir haben es dann bis zum Ende so durchgezogen. Ich kann ja nicht zu einem neuen Verein kommen und die Jungs mit einem 15-Punkte-Plan volllabern.“
Auch bei St. Pauli scheint er als Nachfolger von Fabian Hürzeler den richtigen Ton getroffen zu haben, der Aufsteiger hat insbesondere das Credo einer stabilen Abwehr verinnerlicht. Warum am Saisonende der Klassenerhalt gelingt? „Weil wir die Liga angenommen und ein unfassbar gutes Teamgefüge haben. Wir sind als Mannschaft geschlossen, haben eine unglaubliche Fanbase und ein unglaubliches Stadion“, sagt Blessin, der nicht nur Bürohund Ella von sich zu überzeugen weiß.