Hamburg. Daten-Analyse zeigt die große Diskrepanz zwischen Offensive und Defensive. Welche Bereiche den Hamburgern dennoch Hoffnung machen.
Elias Saad grinste fröhlich in die Kamera, als er am Mittwochabend ein Foto aus dem Kraftraum postete. Mit angespanntem Bizeps und freiem Oberkörper ließ sich der Flügelspieler des FC St. Pauli im Trainingszentrum an der Kollaustraße ablichten. Der kurze Instagram-Schnappschuss versprühte ein Gefühl von Optimismus – hatte aber dummerweise einen Haken.
Denn neben dem Sixpack, dem Gute-Laune-Lächeln und den (für Saad-Verhältnisse) massiven Oberarmen, war da auch immer noch eine ebenso massive, bis zur Kniekehle reichende Orthese an seinem rechten Sprunggelenk zu sehen. Seit Anfang Oktober fällt der 24-Jährige nun schon infolge eines Innenband- und Syndesmosebandrisses aus – und wird den Kiezkickern weder am Sonntag (17.30 Uhr/DAZN) bei Borussia Mönchengladbach noch in den anderen verbleibenden Bundesligaspielen dieses Jahres helfen können.
Daten belegen: FC St. Pauli ohne Saad und Afolayan deutlich ungefährlicher
Eine möglichst schnelle Rückkehr des dribbelstarken Flügelspielers wäre für den Aufsteiger jedoch von elementarer Bedeutung. Das zeigt eine exklusive Datenanalyse, die das Unternehmen „ballorientiert“ für das Abendblatt erstellt hat. So wurden in den drei Bundesligaspielen gegen Leipzig (0:0), Freiburg (3:0) und Mainz (0:3), in denen St. Pauli mit der Flügelzange Elias Saad/Oladapo Afolayan im 3-4-3-System agierte, deutlich bessere Offensivwerte ermittelt.
Im Vergleich zu den sieben Bundesligaspielen ohne Saad und Afolayan in der Startelf verdoppelte sich der sogenannte Expected-Goals-Wert pro Spiel von 0,7 auf 1,4. Diese mithilfe eines Algorithmus errechnete Wahrscheinlichkeitskennzahl zeigt, wie viele Tore angesichts der eigenen Chancenqualität und -quantität zu erwarten sind.
Mit Saad und Afolayan kam St. Pauli zudem auf durchschnittlich 13 Schüsse, 33 Angriffe, 6,3 angekommene Flanken und 64 geführte Offensivzweikämpfe pro Spiel. Ohne die beiden kreativen Tempodribbler gab es durchschnittlich nur neun Schüsse, 23 Angriffe, 2,7 angekommene Flanken und 52 Offensivduelle pro Partie.
Offensiv gibt es in vielen Bereichen Steigerungspotenzial
Insgesamt schneiden die Kiezkicker nach den ersten zehn Bundesligaspielen in den Offensiv-Parametern des durchschnittlichen Ballbesitzes (42 Prozent/Ligaplatz 16), der gesamten Expected Goals (9,0/Platz 18), der tatsächlich insgesamt erzielten Tore (sieben/Platz 18), der Torschusspräzision (30 Prozent/Platz 18) und der durchschnittlichen Anzahl der Flanken pro Spiel (12,3/Platz 14) im Bundesligavergleich nicht gut ab.
Ein weiterer Grund dafür, dass die Hamburger wenig Tore erzielen, liegt am Verhalten in Kontersituationen. Zu selten erwischt St. Pauli den Gegner ungeordnet in Umschaltmomenten, mit nur sieben Schüssen nach Konterangriffen belegt der Club im Ligavergleich Platz 15.
Mangelde Geschwindigkeit im Offensivbereich
Dies liegt auch daran, dass kein Spieler über eine herausragende Geschwindigkeit verfügt. Den bisherigen Tempo-Topwert stellte in Philipp Treu ein Außenverteidiger auf. Mit 33,96 km/h liegt Treu im Ligavergleich allerdings auch nur auf Platz 71. Der bisher schnellste Offensivspieler ist bisher Stürmer Morgan Guilavogui mit maximal 33,29 km/h (Platz 131 der Liga).
Auch bei Standards ist man bisher noch nicht erfolgreich. Zwar tritt Innenverteidiger Eric Smith regelmäßig gefährliche Bälle vor das Tor, verwerten konnte bisher allerdings noch kein Kiezkicker eine solche Hereingabe. Neben RB Leipzig sind die Hamburger der einzige Bundesligist, der in dieser Saison noch kein Standardtor erzielt hat. Dies dürfte auch im Zusammenhang mit der fehlenden Kopfballhoheit stehen, mit nur 36 Prozent gewonnenen Luftduellen ist St. Pauli in diesem Bereich ebenfalls das Schlusslicht der Liga.
Defensiv gehören die Hamburger zur oberen Tabellenhälfte
Klingt so, als wäre der Abstieg bereits besiegelt. Ist er aber nicht, weil die Braun-Weißen defensiv in vielen Bereichen der oberen Tabellenhälfte zuzuordnen sind. Ligaweit haben nur der FC Bayern (sieben Gegentore), RB Leipzig (fünf), der SC Freiburg (elf) und Union Berlin (acht) weniger Gegentore kassiert als St. Pauli (zwölf). Dies ist kein Zufall, sondern wird auch durch den Expected-Goals-Against-Wert (12,5) bestätigt. Bei dieser anhand von Qualität und Quantität gegnerischer Chancen errechneten Kennzahl liegen die Kiezkicker im Ligavergleich auf Rang fünf.
Auch bei den durchschnittlich pro Spiel zugelassenen Schüssen (10,3/Platz sieben), abgefangenen Pässen (40/Platz fünf), der Defensiv-Zweikampfquote (68 Prozent/Platz eins) und der durchschnittlichen Gesamtlaufdistanz (121, 4 Kilometer/Platz eins) gehören die Hamburger zur Spitze. Der einzige Negativaspekt ist die Konterabsicherung, mit fünf Kontergegentoren aus den ersten zehn Spielen ist St. Pauli in diesem Bereich Ligaschlusslicht.
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Dennoch: Selbst bei der zuletzt knappen 0:1-Niederlage gegen die Tormaschine des FC Bayern (durchschnittlich 2,43 Expected Goals pro Spiel) zeigte die Mannschaft von Alexander Blessin, dass sie auf höchstem Niveau verteidigen kann. In der bisherigen Saison ließ kein anderer Bundesligist so wenig Expected Goals gegen die Münchner zu wie der Aufsteiger (1,15). Wettbewerbsübergreifend war in dieser Spielzeit bisher nur der FC Barcelona (1,04) besser gegen den FC Bayern.
Steigert sich St. Pauli in den kommenden Wochen also offensiv, ohne die Defensive zu vernachlässigen, dürfte es viele weitere fröhlich-grinsende Fotos von Elias Saad und Co. geben. Irgendwann dann auch wieder ohne Orthese.