Konkrete Zahlen zu nennen ist für viele Fußballchefs ein Tabu. Altonas Boss Dirk Barthel legt die Karten auf den Tisch.
Hamburg. Den einen Anruf wird er nie vergessen. Es war Anfang 2008. Frühmorgens um acht Uhr klingelte bei Dirk Barthel das Telefon. Der Hamburger Kaufmann und Präsident des Traditionsfußballklubs Altona 93 ging an den Apparat, am anderen Ende war Ronald Lotz, Manager des ebenfalls ambitionierten Amateurvereins SC Victoria. "Er sagte zu mir: Victoria und Altona könnten sich ein Stadion teilen, das den Ansprüchen des DFB genügt", erinnert sich Barthel.
Es war der Auftakt eines beispiellosen Projektes. Erst wurden unter Lotz' Regie alle wirtschaftlichen Vorgaben gestemmt, dann mutierte das altehrwürdige Victoria-Stadion an der Hoheluft zur Express-Baustelle. Altona zog aus seiner legendären Adolf-Jäger-Kampfbahn aus und in die unmittelbare Nachbarschaft des Universitätskrankenhauses Eppendorf um, wo fortan die Punktspiele in der höchsten deutschen Amateurspielklasse, der Regionalliga, angepfiffen wurden.
Umzug und Saisonstart liegen nun ein halbes Jahr zurück. Für Barthel vergeht kaum eine Woche, in der er nicht an das besagte Telefonat zurückdenkt und sich wünscht, er hätte es gar nicht erst entgegengenommen, oder er hätte Lotz damals eine klare Absage erteilt. Vielleicht könnte er bei Gedanken an seinen Lieblingsverein, seine große Fußballleidenschaft, dann etwas weniger gestresst sein. Altona 93 ist nämlich nicht mehr nur Traditions- und Kultverein, sondern eben auch - passend zur neuen Umgebung der Heimspielstätte - ein Patient.
Die Symptome des unter Depressionen leidenden Vereins: chronische Liquiditätsnöte, Zukunftsängste, Hoffnungslosigkeit. Immer wieder besprechen Barthel und seine umtriebigen Mitstreiter des AFC die Lage. Sie stellen sich und ihre vor der Saison kalkulierten Planzahlen infrage. "Wir haben immer sehr konservativ gerechnet", sagt Barthel und tippt auf eine schriftlich festgehaltene Kalkulation aus dem Frühsommer des vergangenen Jahres. Dann fällt sein Blick auf den Zettel daneben, wo die aktuellen Zwischenstände notiert sind - Kopfschütteln.
Fußballbosse sind eigentlich zurückhaltend, was konkrete Zahlen ihres Klubs betrifft. Barthel ist anders. "Wir haben nichts zu verheimlichen", sagt er und fügt an: "Vielleicht öffnet unser Beispiel auch anderen ambitionierten Vereinen die Augen!"
Bei Altona hapert es vor allem auf der Einnahmenseite. Von den erhofften Vermarktungserlösen (rund 300 000 Euro) wird nach bisherigem Stand etwas mehr als die Hälfte erreicht. "Von der Euphorie und den vielen Ankündigungen potenzieller Werbepartner nach unserer Entscheidung pro Regionalliga ist nicht viel übrig geblieben", resümiert Barthel. Dass der Umzug in das fremde Stadion Sponsoren abgeschreckt hat, streitet der AFC-Boss nicht ab: "Ohne eine echte Heimat als Heimspielstätte fehlen Argumente für eine Kooperation."
Auch das Zuschauerinteresse entspricht nicht den Erwartungen. Nach fast jedem Heimspiel rümpfen Barthel und Co. die Nasen. Mit rund 1200 Zuschauern im Schnitt liegt der AFC 100 Fans unter der von Barthel zaghaft kalkulierten Größe - und die meisten Zuschauermagneten waren bereits zu Gast in Hamburg.
Sie wollten nicht nur jammern, sagt Barthel. Dabei hätten die Altonaer allen Grund dazu. Dass beispielsweise der DFB keinerlei Warnungen aussprach, als der AFC nur etwas mehr als 20 000 Euro für Sicherheitskräfte in seinen Etat integrierte und einreichte, verwundert schon. Im Schnitt sind pro Spiel fast 70 Kräfte im Einsatz, bei den so genannten Sicherheitsspielen noch mehr. Allein gegen Chemnitz musste der Verein mehr als 5400 Euro berappen, was deutlich mehr als der Hälfte der Gesamteinnahme entsprach. Im Bereich Sicherheit türmen sich Gesamtkosten in Höhe von 70 000 Euro auf. Höhere Aufwendungen für Auswärtsübernachtungen, DFB-Abgaben (500 Euro pro Spiel) oder Beteiligungen für Victoria sind eher Randerscheinungen. Und doch sind sie Realität. Bei jedem Blick wird das Finanzloch größer.
Die Zukunftsvisionen der Verantwortlichen sind klar skizziert. "Erzielen wir bei unseren weiteren Versuchen, die Einnahmelage zu verbessern, in absehbarer Zeit keine deutlichen Erfolge, ist diese Spielklasse für uns nicht finanzierbar", sagt Barthel. Er und seine Mitstreiter wollen zwar unbedingt die Vierte Liga erhalten, aber eben nicht unter dem Risiko einer totalen Pleite. Sollten die TV-Gelder für die kommende Serie tatsächlich auf unter 90 000 Euro sinken, wäre der freiwillige Rückzug des AFC in die Oberliga Hamburg unabdingbar. Das gilt auch für den Fall, dass der DFB Videoüberwachungen bei allen Spielen und dauerhafte Flutlichteinschaltung vorgeben sollte.
Die letzte kleine Hoffnung des Präsidenten in dieser Saison ist eine sportliche: der Oddset-Pokalwettbewerb. Dort winken im Erfolgsfall und einer glücklichen Auslosung der ersten Hauptrunde des DFB-Pokals deutlich mehr als 100 000 Euro Garantieeinnahme. "Ansonsten gilt bei uns ab sofort nur in allen Bereichen Einsparungen vorzunehmen, so viele wie möglich sind", sagt Barthel. Das böse Erwachen am Saisonende will er unter allen Umständen verhindern. Ansonsten wäre der Patient Altona 93 im Nu tot.
Treibt der DFB die Amateurklubs in den Ruin? Schreiben Sie uns Ihre Meinung: www.abendblatt.de/sport