Hamburg. Entscheidung pro Polzin stand schon länger fest, hieß es. Tatsächlich verhandelte Kuntz wenige Tage vor dem Fürth-Spiel mit Paderborn.
Die Stimmung in der Loge des HSV wirkte fast schon losgelöst, als Vorstand Stefan Kuntz, Sportdirektor Claus Costa und Trainer Merlin Polzin am Sonntag zusammenkamen. Einen Tag nach dem beeindruckenden 5:0-Heimsieg gegen Greuther Fürth legten die beiden Manager dem bisherigen Interimstrainer einen neuen Vertrag als Chefcoach bis zum Sommer vor. Die Entscheidung, von der Polzin erst bei der Abschlussanalyse der Hinrunde erfuhr, stand bereits vor dem Duell gegen Fürth fest.
Zum einen, weil Kuntz und Costa überzeugt sind von Polzin, der den Rückhalt der Mannschaft sicher hat und einen attraktiveren und erfolgreicheren Fußball spielen lässt als Vorgänger Steffen Baumgart. Doch nicht alle Gründe sind unmittelbar auf Polzin selbst zurückzuführen. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass sich mit Paderborns Trainer Lukas Kwasniok eine Alternative nur wenige Tage vor dem Fürth-Spiel zerschlagen hat.
HSV legte Kwasniok schriftliches Angebot vor
Dabei hatte Kuntz am Sonntag betont, dass die Trainerentscheidung pro Polzin nicht erst wenige Tage vor dem Heimspiel gegen die Franken feststand. Auch der Aufsichtsrat wisse schon länger darüber Bescheid, hieß es. Tatsächlich spielte sich der Ablauf der Woche vor dem Fürth-Spiel allerdings ganz anders ab. Denn Polzin ist nicht der einzige Trainer, der ein Vertragsangebot vom HSV erhielt. Auch Kwasniok lag ein unterschriftsreifes Angebot vor. Obwohl die gesamte Woche zwischen dem HSV, Paderborn und Kwasniok verhandelt wurde, platzte der Deal kurz vor dem Fürth-Spiel. Doch der Reihe nach.
Nach dem enttäuschenden 1:1 bei Aufsteiger SSV Ulm (Sa, 14. Dezember) kamen im Volkspark Zweifel auf, ob Polzin der richtige Mann in der ersten Reihe für den Aufstieg sei. Schließlich wurde Kwasniok erstmals kontaktiert, um zu eruieren, ob er sich vorstellen könne, den HSV zur Rückrunde zu übernehmen. Kwasniok kann.
In den folgenden Tagen glühten die Telefonleitungen zwischen Hamburg und Paderborn, täglich soll es mindestens zwei Gespräche gegeben haben. Neben der Ausrichtung für die zweite Halbserie wurde sich zwischen dem HSV und Kwasniok auch über das Gehalt und die Laufzeit verständigt. Daraufhin verschickte Kuntz ein offizielles schriftliches Vertragsangebot, beide Seiten waren sich grundsätzlich über eine Zusammenarbeit einig.
HSV bot eine Million Euro für Kwasniok
Nun begann der deutlich kompliziertere Part, denn der HSV musste sich mit Paderborn auf eine Ablöse einigen. Kwasniok verfügt über keine Ausstiegsklausel in seinem bis 2026 gültigen Kontrakt beim Zweitliga-Sechsten, der kein großes Interesse signalisierte, seinen Erfolgscoach mitten in der Saison an einen direkten Aufstiegsrivalen zu verlieren. Nach Abendblatt-Informationen soll Kuntz in den Telefonaten mit Paderborns Sport-Geschäftsführer Benjamin Weber und Präsident Thomas Sagel eine Ablöse von einer Million Euro zuzüglich Nachzahlungen bei Aufstieg in Aussicht gestellt haben.
Es handelte sich dabei um ein erstes Angebot, das auch noch hätte nachverhandelt werden können. Die Offerte wurde intensiv im Wirtschaftsrat des SC Paderborn, deren Vorsitz Sagel hat, diskutiert. Und das Gremium, das in Paderborn über Entscheidungsgewalt verfügt, legte sein Veto ein. Paderborn war nicht bereit, Kwasniok zu den auf dem Tisch liegenden Bedingungen ziehen zu lassen. Und beim HSV gab es keine Bemühungen, das mündlich hinterlegte Ablösegebot zu erhöhen. Allerdings gab es auch nie eine Absage der Hamburger an Kwasniok.
HSV-Aufsichtsrat erfuhr am Freitag über Polzin-Wahl
Parallel reifte offenbar der Entschluss im Volkspark, Polzin im Amt zu lassen. Aber erst am Freitag informierte Kuntz den Aufsichtsrat über die geplante Beförderung des Trainertalents, die unabhängig vom Ergebnis gegen Fürth erfolgen sollte. Ob Kuntz auch dann an dieser Entscheidung festgehalten hätte, wenn das Heimspiel verloren gegangen wäre? Zweifel sind zumindest angebracht.
Doch etwaige Gedankenspiele sind nach dem überzeugenden 5:0-Erfolg obsolet. Polzin bleibt Trainer des HSV und Kwasniok bleibt Trainer in Paderborn. So richtig glücklich scheint der 43-Jährige darüber aber nicht zu sein. Nach der 1:2-Heimniederlage zum Hinrundenabschluss gegen den Karlsruher SC holte er zum verbalen „Rundumschlag“ aus, wie er es selbst nannte. „Wir haben ein qualitatives Problem, wenn wir ganz oben mal andocken wollen“, schimpfte Kwasniok und rechnete vor, dass allein die Torhüter „sechs bis acht Punkte gekostet“ hätten. „Das ist ein No-Go!“
„Ich glaube, dass Mannschaft und Trainerteam nicht besser arbeiten können. Und das ärgert einen, wenn du das siebte Halbjahr hinter dir hast und wieder dastehst und sagst: maximal gearbeitet und das ist das Ergebnis“, ärgerte sich der SCP-Coach. „Das ist mir auf Dauer zu wenig. Entweder es passiert etwas oder wir haben irgendwann ein motivationales Problem.“
HSV-Wechsel von Kwasniok erneut verhindert
Kwasnioks Frust resultiert auch aus der Tatsache, dass ihm Paderborn bereits zum dritten Mal die Freigabe verweigert hat. Schon vor der Verpflichtung von Baumgart im Februar hatte Ex-HSV-Vorstand Jonas Boldt dem Trainer ein Angebot unterbreitet, das Paderborn ablehnte. Und auch als der VfB Stuttgart zwei Monate später Sebastian Hoeneß für Bruno Labbadia verpflichtete, hatte sich der Bundesligist zuvor um Kwasniok bemüht. Der Wechsel scheiterte erneut am Veto der Ostwestfalen. So auch diesmal.
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Mit Labbadia hatte sich Kuntz kurz nach dem Baumgart-Aus im Übrigen auch bereits in weit fortgeschrittenen Verhandlungen befunden. Vier Wochen ist dieser Vorgang nun schon her, und auch damals bestand weitgehende Einigkeit über eine Zusammenarbeit. Doch dann gewann Polzin 3:1 in Karlsruhe, und alles schien vergessen. Auch in dem Fall soll Labbadia nicht persönlich abgesagt worden sein.
Wie aber geht es jetzt weiter? Für den Moment genießt Polzin beim HSV die volle Rückendeckung für das Projekt Aufstieg. Hamburgs neuer Cheftrainer darf sich auf ein ganz besonderes Weihnachtsfest freuen – daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er in den vergangenen Wochen nicht die erste Wunschlösung im Volkspark war.