Bramberg. Fuß drohte abzusterben: HSV-Torwart Raab über schwere Verletzung, die fast sein Karriereende bedeutet hätte. Was er daraus lernte.
Am Wochenende kann Matheo Raab nicht unter Beweis stellen, warum er als die Nummer eins in die neue Saison startet. Obwohl der HSV in Österreich einen Testspiel-Doppelpack gegen die namhaften Gegner FC Nantes (4:2) aus Frankreich sowie den englischen Zweitligisten Cardiff City (0:3) bestreitet, wird sich der 25 Jahre alte Torwart nicht auszeichnen können. Denn Raab liegt seit zwei Tagen wegen eines Infekts flach, kann auch nicht trainieren.
Um seinen Status als Stammtorhüter zu verteidigen, braucht der gebürtige Hesse die Testspiele allerdings nicht. Trainer Steffen Baumgart hat sich zu Beginn der Vorbereitung klar positioniert und Raab, der Daniel Heuer Fernandes zwischen den Pfosten abgelöst hat, das Vertrauen ausgesprochen.
Zwei Jahre nach seiner ablösefreien Verpflichtung vom 1. FC Kaiserslautern hat es der als Nummer zwei gestartete Raab also mal wieder geschafft, sich durchzubeißen. Sein Weg, sich im Schatten eines Stammtorwarts zur Nummer eins hochzuarbeiten, zieht sich wie ein roter Faden durch seine Karriere. Dabei war anfangs gar nicht klar, ob er es überhaupt zum Profi schaffen werde.
HSV-Torwart Raab stand vor Karriereende
Rückblick: Nachdem er mit der U19 von Eintracht Trier den Aufstieg in die A-Jugend-Bundesliga verpasst hat, wechselt Raab im Sommer 2017 zu Kaiserslautern II. Dort ist er – natürlich, möchte man fast sagen – als Nummer zwei vorgesehen, doch schon nach fünf Saisonspielen rückt der damals 18-Jährige ins Tor.
Zwei Monate später folgt schließlich der Moment, der ihn bis heute prägt. Raab wirft sich in einen Steilpass, um diesen abzufangen. Der zu spät kommende Stürmer will über ihn springen, schätzt die Situation jedoch falsch ein und „tritt auf mein Schienbein“, erinnert sich Raab. „Ich schrie extrem laut vor Schmerzen, mir war sofort klar, mich schwer verletzt zu haben.“
Raabs Fuß drohte abzusterben
In den darauffolgenden Stunden musste alles ganz schnell gehen. Es kam auf die richtigen Entscheidungen an, die die Ärzte glücklicherweise auch trafen. Raab wurde direkt ins Krankenhaus eingeliefert und notoperiert, weil er sich das sogenannte Kompartmentsyndrom zugezogen hatte. Dabei sammelt sich Flüssigkeit in Muskelgruppen, wodurch die Blutversorgung gestört wird. Ein Zustand, der kaum zu vergleichende Schmerzen auslöst.
„Das Schienbein brach an der dicksten Stelle und verletzte so viele Arterien, dass das Blut nicht mehr über die Bruchstelle laufen konnte. Dadurch schwoll das Bein an, und es bestand die Gefahr, dass mein Fuß absterben könnte“, schildert Raab die bangen Stunden seiner noch jungen Profilaufbahn. „Einer der Ärzte sagte mir, dass eine solche Verletzung eigentlich nicht beim Fußball passieren kann, sondern eher bei einem Autounfall.“
HSV-Keeper Raab: Sieben OPs und Nagel im Bein
An seiner Wade wird eine Hauttransplantation mit Gewebe aus dem Oberschenkel durchgeführt. „Innerhalb von drei Wochen wurde ich siebenmal operiert und bekam zur Stabilisierung einen Nagel ins Bein“, erinnert sich Raab, der zunächst gar nicht wahrhaben wollte, dass er länger ausfallen werde.
Erst als er nach sieben Tagen im Krankenhaus einen Stationsarzt ansprach, wann er denn wieder Fußball spielen könne, und dieser seiner Frage auswich und stattdessen weitere Operationen in Aussicht stellte, wurde dem damaligen Nachwuchstalent klar, dass ihm ein zäher Weg bevorstehe. „In der ersten Woche im Krankenhaus fehlte mir jegliche Lust auf Fußball, weil ich extreme Schmerzen hatte und nicht klar denken konnte vor lauter Medikamenten. Der Fußball war in dieser Zeit sehr weit weg für mich.“
„Meine Karriere stand kurz vor dem Ende“
In dem knapp 40-minütigen Gespräch mit dem Abendblatt spricht Raab erstaunlich offen über die schwierigste Phase seines noch jungen Lebens. Obwohl die Verletzung bereits sieben Jahre zurückliegt, kann er sich an nahezu jedes Detail erinnern und sogar einzelne Gespräche mit Therapeuten aus seinem Gedächtnisprotokoll reproduzieren.
Wenn er in dieser Zeit nicht so viel Unterstützung von seinen Eltern Manfred und Christiane sowie seiner Schwester Sophie erfahren hätte, dann wäre seine Profilaufbahn an dieser Stelle beendet gewesen. Davon ist Raab im Nachhinein überzeugt. „Meine Karriere stand kurz vor dem Ende, obwohl sie gerade erst angefangen hatte.“
Wer Raab während Verletzung half
Doch seine Familie lässt ihn nicht hängen und besucht ihn täglich während der gesamten drei Wochen im Krankenhaus, vermittelt ihm neuen Mut. Weil Raab wegen seines komplizierten Bruchs kein Auto fahren darf, bringen ihn seine Eltern zu jeder Behandlung. An Sonn- und Feiertagen behandelt ihn Sophie, die schon damals als Physiotherapeutin tätig ist.
„Ich habe ihnen zu verdanken, wieder auf die Beine gekommen zu sein“, sagt Raab demütigt und hebt auch die Rolle seines Beraters Nico Klemens hervor, der noch heute seine Verträge aushandelt. „Er hat mich nie fallen lassen, mich enorm unterstützt und Kontakte zu Therapeuten vermittelt.“
Ärzte glaubten Matheo Raab nicht
Zu einer skurrilen Situation kam es, als Raab eineinhalb Monate nach seiner ersten Operation erstmals wieder im Krankenhaus vorstellig wurde und über seine Fortschritte berichten sollte.
„Der Arzt glaubte mir nicht, dass ich schon wieder joggen konnte, also musste ich es ihm im Krankenhausflur demonstrieren“, erzählt der Torwart. „Der Vorfall zeigte mir, dass es schneller bergauf geht als von den Ärzten prognostiziert. Der Gedanke daran gab mir neue Energie, Ehrgeiz und Kraft. Ich wusste in dem Moment, dass ich auf dem Platz wieder angreifen möchte.“
Raab kämpfte sich zurück – und wechselte zum HSV
Von da an beginnt so etwas wie die zweite Profichance für Matheo Raab. Auch wenn er immer wieder von kleineren Rückschlägen zurückgeworfen wird und manche Verantwortliche beim FCK daran zweifeln, seinen auslaufenden Vertrag zu verlängern, kämpft sich der inzwischen 19-Jährige zurück ins Tor. Im Oktober 2018, fast auf den Tag genau ein Jahr nach seiner schweren Verletzung, gibt Raab sein Comeback für die Oberliga-Mannschaft.
Doch eine Sache behindert ihn nach wie vor. Der Nagel im Bein stört den Keeper in seinen Abläufen und führt sogar zu einer Verletzung am Sprunggelenk. Wieder muss Raab knapp zwei Monate pausieren, bis ihm das Metallstück nach eineinhalb Jahren entfernt werden kann. „Es dauerte schon sehr, sehr lange, bis ich endlich schmerzfrei war“, erinnert sich Raab, der mittlerweile keine Beeinträchtigungen mehr spürt.
2020 wird der junge Torhüter zu den Profis von Kaiserslautern hochgezogen. Nach nur einem Jahr verdrängt er die damalige Nummer eins Avdo Spahic und steigt als Stammtorwart in die Zweite Liga auf. Obwohl Raab als Aufstiegsheld im gesamten Verein eine hohe Wertschätzung genießt, steht für ihn bereits im Winter fest, den Club zu verlassen. Er wechselt zum HSV, bei dem er – wie soll es auch anders sein? – in die Rolle des Herausforderers schlüpft.
Was Raab aus seiner Verletzung lernte
Raab beschreibt sich selbst als einen Typen, der den einfachen Weg scheut und die besondere Herausforderung sucht. In seinen bisherigen Stationen musste er sich immer durchsetzen, bekam nie etwas geschenkt. Die Gedanken an seinen Schienbeinbruch helfen ihm, um mit solchen, gerade für Torhüter nicht immer einfachen Situationen umgehen zu können.
„Ich habe viele positive Lehren aus der Zeit gezogen: Wie wertvoll es ist, gesund zu sein, dass ich Fußball spielen darf und wie man am besten mit Drucksituationen umgeht.“
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HSV-Torwart Raab: Schienbeinbruch begleitet ihn
Zuvor setzte sich Raab häufig selbst unter Druck. Negative Gedanken, bloß keinen Fehler machen zu dürfen, belasteten ihn. Inzwischen weiß er, dass Fehler zum Sport dazugehören und der Gedanke daran einen letztlich nur hemmt. Stattdessen steht für Raab nun die Freude am Fußball im Vordergrund.
Für den HSV könnte seine Einstellung zum entscheidenden Trumpf im Aufstiegskampf werden. „Beim HSV ist immer Druck auf dem Kessel. Ich versuche mich in solchen Momenten, in denen ich den Druck spüre, an meine schwere Verletzung zu erinnern, um mentale Stärke daraus zu ziehen“, sagt Raab, der genau weiß: „Die Erinnerungen an meinen Schienbeinbruch und an die Zeit, wieder zurückzukommen, werden mich meine gesamte Karriere begleiten.“