Bramberg. Trainer Baumgart studiert unterschiedliche Systeme ein, um eine bestimmte Schwäche zu bekämpfen. Welche Idee dahintersteckt.
Sebastian Schonlau griff sich erschöpft an die Hüfte, als die 0:3-Niederlage des HSV im Testspiel am Sonntag gegen den englischen Zweitligisten Cardiff City besiegelt war. Einen Tag nach dem 4:2-Erfolg gegen den französischen Erstligisten FC Nantes steckte den Hamburgern der 120-Minuten-Test noch in den Knochen. „Es ist kein Geheimnis, dass wir müde waren. Trotzdem ist es nicht unser Anspruch, 0:3 zu verlieren“, sagte der HSV-Kapitän. „Wir hatten in beiden Halbzeiten Probleme und haben zu viele Torchancen zugelassen.“
Viel wichtiger als das Ergebnis ist aber ohnehin eine ganz andere Erkenntnis: Unter Steffen Baumgart wird der HSV in der neuen Saison taktisch variabler agieren.
Im Trainingslager studiert der HSV-Trainer unterschiedliche Systeme ein, die auch in den beiden Testspielen angewandt wurden. Auffällig ist, dass Baumgart immer wieder auf eine defensive Dreierkette im Spielaufbau sowie im Pressingverhalten auf eine Doppelspitze im Angriff setzt.
Baumgart stellt HSV taktisch variabler auf
Zugegeben: Die Idee ist nicht neu. Seit seinem Amtsantritt in der Rückrunde hatte der HSV-Coach bei gegnerischem Ballbesitz schon immer vorzugsweise mit zwei Spitzen hoch anlaufen lassen. Neu ist allerdings, dass sich die Hamburger häufiger auch bei eigenem Ballbesitz in einem System mit zwei Stürmern aufstellen werden – vorausgesetzt das momentan nicht voll belastbare Sturmduo Robert Glatzel und Davie Selke ist einsatzfähig. Solange die beiden Torjäger ausfallen, wird Baumgart offensiv auf einen klassischen Stürmer sowie zwei Flügelspieler setzen.
Da der HSV auch in seinem siebten Zweitligajahr vermehrt auf tief stehende Gegner treffen wird, soll die defensive Dreierkette in vielen Spielen als Gegenrezept dienen. Von dieser Maßnahme erhofft sich Baumgart eine Überzahl im Mittelfeld, für das ihm dadurch ein Spieler mehr zur Verfügung steht. Dort agiert Baumgart flexibel mit einem oder zwei Sechsern, von denen sich einer situativ in die Abwehr fallen lassen kann, die dann zur Fünferkette erweitert wird. Es ist eine Rolle, die Neuzugang Daniel Elfadli bereits aus Magdeburg kennt.
Baumgart reagiert taktisch auf Gegner
In beiden Testspielen war bereits zu sehen, wie unterschiedlich die Systeme ausfallen. Baumgart hält sich Umstellungen während des Spiels offen, wenn eine Idee einmal nicht so aufgeht wie gewünscht.
Im Großen und Ganzen will sich der HSV taktisch variabler aufstellen, um weniger ausrechenbar zu sein. „Unberechenbarkeit ist im Fußball sehr schwer, weil wir alle gläsern sind“, erklärt Baumgart, der für keine falschen Erwartungen schüren will. Und dennoch hat er die Abkehr vom über alle sechs Zweitligajahre recht starr praktizierten 4-3-3 eingeleitet.
Statt nur noch auf sich zu gucken – ein Motto, das Vorgänger Tim Walter stets ausgegeben hatte – will Baumgart taktisch auf die Spielweise des Gegners reagieren. „Wir werden gucken, was uns Erfolg bringt und wo wir Ansätze sehen“, sagt der Trainer ganz nüchtern, der als Basis aller Systeme ein Pressing mit einer hohen Laufintensität praktizieren lässt.
Kuntz lobt taktische Variabilität beim HSV
Gefallen an der neuen taktischen Variabilität hat auch Sportvorstand Stefan Kuntz gefunden. „Es ist eine Reaktion aus den Erfahrungen seiner bisherigen Spiele als HSV-Trainer, eine Variabilität für die unterschiedlichen Spiele zu benötigen. Die Basis dafür schaffen wir im Trainingslager“, sagte der Manager.
Kuntz vertritt die Sichtweise, dass der HSV den Aufstieg nur über erfolgreiche Duelle bei den Aufsteigern Preußen Münster, Jahn Regensburg und SSV Ulm erreichen kann. Es sind genau die Spiele, in denen die Hamburger in der jüngeren Vergangenheit zuverlässig schwächelten. In den beiden zurückliegenden Spielzeiten holte der HSV jeweils nur sieben von 18 möglichen Punkten in den sechs Partien gegen die Liganeulinge. Eine Bilanz, die am Ende die Bundesligarückkehr kostete.
HSV will mehr Tore nach Ecken – erster Erfolg
Deshalb hat sich Baumgart Gedanken gemacht. Eine weitere Idee, gegen defensive Gegner zum Erfolg zu kommen, ist eine höhere Effizienz bei Standards. Unter Walter schossen die Hanseaten in der vergangenen Hinrunde nur ein Tor nach 100 Eckbällen. In der Rückrunde verbesserte sich die Torausbeute, zufriedenstellend war sie aber immer noch nicht.
In Österreich trainiert Baumgart daher verstärkt Ecken. Eine Maßnahme, die gegen Nantes bereits Früchte trug, als der HSV durch Dennis Hadzikadunic und Moritz Heyer zweimal nach einem ruhenden Ball erfolgreich war. „Das haben wir geübt, das war so einstudiert“, freute sich der präzise Eckenschütze Miro Muheim.
HSV-Youngster überzeugt Baumgart
Für Freude sorgte auch Youngster Fabio Baldé, der an seinem 19. Geburtstag das Spiel gegen Nantes mit einem Supersprint zum 3:2 drehte, als er nach seiner Balleroberung vor dem eigenen Strafraum nicht mehr aufzuhalten war und auch im Abschluss Nervenstärke bewies.
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„Wir wussten, dass wir Jungs haben, die talentiert sind“, lobte Baumgart nach dem Nantes-Spiel seine vier mit nach Österreich gereisten Talente Baldé, Bilal Yalcinkaya, Luis Seifert und Omar Sillah zählen. Auch gegen Cardiff konnten Yalcinkaya und Baldé Pluspunkte beim Trainer sammeln. „Alle vier können uns in der Zukunft weiterbringen, im Laufe der Saison können sie richtig interessant für uns werden.“
Baldé könnte die größte Überraschung des Trainingslagers werden. Für Baumgart ist er eine weitere taktische Alternative.
- HSV, 1. Halbzeit: Heuer Fernandes – Oliveira, Hadzikadunic, David (36. Seifert), Muheim – Elfadli – Pherai, Öztunali – Jatta, Sillah, Dompé.
- HSV, 2. Halbzeit: Heuer Fernandes (60. Hermann) – Mikelbrencis, Seifert (60. Ramos), Schonlau, Katterbach – Pherai (60. Yalcinkaya) – Heyer, Karabec – Nemeth, Sillah (60. Baldé), Königsdörffer.
- Tore: 0:1 Tanner (48.), 0:2 Davies (69.), 0:3 Callum (89.).
- Tore gegen Nantes: 0:1 Mahamoud (10.), 0:2 Pallois (26.) brachten die Franzosen früh in Führung, 1:2 Heyer (72.), 2:2 Hadzikadunic (82.), 3:2 Baldé (86.), 4:2 Jatta (98.).