Würzburg. Für die Hamburger läuft es beim ersten Pflichtspiel in Würzburg ähnlich wie vor 91 Jahren. Thioune kündigt Aufarbeitung an.
Als es wirklich vollbracht war, konnte Rainer Adam sein Glück kaum fassen. Der 71 Jahre alte Rentner, der seit 59 (!) Jahren das Archiv der Würzburger Kickers pflegt, schnappte sich beim Abpfiff seine Digitalkamera und hielt den Moment des nun amtlichen 3:2-Sieges der Würzburger gegen den HSV für die Nachwelt fest. „Das war ein Sieg für die Geschichtsbücher“, sagte Adam, der wie kein Zweiter die Chroniken der Kickers kennt. „Davon wird man noch lange in Würzburg reden.“
Bereits vor dem Anpfiff hatte Adam viel geredet. Jedem, der es wissen wollte oder auch nicht, hatte der Hobby-Historiker erzählt, dass es lange 91 Jahre her gewesen sei, dass der HSV zuletzt in Würzburg gespielt habe. „Damals wurde noch ohne Pause 90 Minuten lang durchgespielt, weil es am Stadion an der Randersackerer Straße kein Flutlicht gab“, wusste der weißhaarige Adam zu berichten.
5:3 hätten die Kickers das Freundschaftsspiel damals gewonnen – doch an einen Erfolg bei der Pflichtspielpremiere wollte Adam vor dem Anpfiff nicht so recht glauben. „Wenn alles Glück der Welt zusammenkommt, dann schaffen wir vielleicht ein Unentschieden.“
HSV verpasst in Würzburg die Jahrtausendserie
Wie man sich doch täuschen kann. Gut zwei Stunden nach Adams falscher Prognose saß HSV-Trainer Daniel Thioune im Presseraum der Flyeralarm Arena und sollte das Unerklärliche erklären. „Wir haben völlig verdient verloren“, sagte der Coach, der mit seiner Mannschaft an diesem historischen Tag in Würzburg selbst Geschichte hätte schreiben können. Eine Serie mit zwölf Spielen in Folge ohne Niederlage war noch keiner HSV-Mannschaft nach der Jahrtausendwende gelungen.
Doch nachdem die Jahrtausendserie ausblieb, wurde Thioune klar, wie rasant man in Hamburg von einer Serie für die Ewigkeit in eine Ergebniskrise schlittern kann.
Denn genau nach der wurde Thioune kurz nach dem Spiel gefragt, weil der HSV bereits vor der Niederlage in Würzburg zweimal in Folge nur Unentschieden gespielt hatte und nun an diesem Montag – ausgerechnet eine Woche vor dem Stadtderby – seinen Spitzenplatz in der Tabelle einzubüßen droht.
„Wir waren kurz davor, die größte Serie zu starten, die man je in Hamburg gesehen hat. Und jetzt sind wir plötzlich in der Ergebniskrise“, antwortete der angefasst wirkende Thioune. „Ich kann die Frage nicht verstehen. Statistiken interessieren mich nicht.“
Sehr wohl interessierte sich der Fußballlehrer allerdings dafür, wie die überraschende Niederlage des Spitzenreiters beim Schlusslicht zustande kommen konnte. „Wir haben von Beginn an Schwierigkeiten gehabt, in dieses Spiel zu finden“, analysierte Thioune und erinnerte an das erste Tor des Tages, dem eine Fehlerkette der kompletten, neu formierten Dreierkette vorausgegangen war.
Die Bilder des HSV-Spiels in Würzburg:
Von wegen Duell der Gegensätze: HSV verliert in Würzburg
Zunächst hatte der sonst so zuverlässige Moritz Heyer den Ball vertändelt, ehe er sich von Jan Gyamerah abschießen ließ. Weil anschließend Gideon Jung bei Martin Haseks Schuss zu spät kam und Torhüter Sven Ulreich auch nicht seinen besten Tag erwischte, stand es bereits nach 19 Minuten 1:0 für den Tabellenletzten.
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Für den Tabellenersten war es der Anfang vom Ende. Gut zehn Minuten später erhöhte der Niederländer Douglas nach einer erneuten Fehlerkette auf 2:0 (30.), ehe Patrick Sontheimer – erneut nach freundlicher HSV-Hilfe – kurz nach dem Seitenwechsel sogar auf 3:0 (54.) erhöhte. Nun lag sogar ein Debakel in der Luft, von dem selbst Archivar Adam noch nie gesehen oder gehört hatte.
Ganz so schlimm wurde es aus Hamburger Sicht aber doch nicht. Thioune reagierte und nahm den indisponierten Sonny Kittel, der mit vier Gelben Karten vorbelastet war, vom Platz. Der Trainer brachte Youngster Ogechika Heil, später auch noch den zuvor lange verletzten Josha Vagnoman und den chronisch erfolglosen Bobby Wood.
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Als dann alles nach Schadensbegrenzung aussah, wurde es plötzlich doch noch einmal spannend. Zunächst traf Jeremy Dudziak zum 1:3, dann auch noch Wood zum 2:3 (89.). „Hätte Hamburg dieses Spiel noch gedreht, wäre das wohl auch ein besonderes Kapitel in der HSV-Historie geworden“, sagte Adam.
HSV-Trainer Thioune kündigt Aufarbeitung der Niederlage an
Es wäre an einem aus Hamburger Sicht ganz miesen Tag aber des Guten ein wenig zu viel gewesen. „Wir haben jetzt eine lange Rückfahrt vor uns und werden das Geschehene sehr sorgfältig aufarbeiten“, sagte Thioune, ehe er um kurz nach 16 Uhr im Mannschaftsbus verschwand. 520 Kilometer lang hatten er und sein Trainerteam im Anschluss Zeit, die richtigen Schlüsse aus dieser derben Pleite zu ziehen – um im Idealfall am kommenden Montag selbst Geschichte zu schreiben. Dann steht das 105. Hamburger Stadtderby gegen den FC St. Pauli auf dem Programm.
Und Rainer Adam? Der wird erneut genau hinschauen. „Der HSV muss sich gewaltig steigern, wenn er am Saisonende in die Bundesliga zurückkehren will“, sagte er am Sonntag. „Uns Uwe würde ich den Aufstieg jedenfalls gönnen.“