Nürnberg. Nürnbergs Sportvorstand spricht im Interview vor dem Spiel gegen den FC St. Pauli über Herausforderungen für Traditionsclubs.
Das Abendblatt erwischt Dieter Hecking (59) im Auto auf der Fahrt aus seinem Heimatort bei Hannover nach Nürnberg. Nach seiner Trainertätigkeit beim HSV in der Saison 2019/20 wechselte der langjährige Bundesligatrainer im Juli 2020 vom Fußballplatz hinter den Schreibtisch und heuerte als Sportvorstand beim 1. FC Nürnberg an, der am Sonnabend (13 Uhr/Sky) in der Zweiten Liga den FC St. Pauli empfängt. Nur nach der Trennung von Trainer Markus Weinzierl nach dem 21. Spieltag der vergangenen Saison wurde er noch einmalig rückfällig und feierte ein Comeback an der Linie, um den „Club“ vor dem Abstieg zu retten – was auch gelang (Platz 14). Danach beförderte er seinen vorherigen Co-Trainer Cristian Fiél zum Cheftrainer und kümmert sich seitdem um seine Aufgaben als Funktionär.
„Das ist einer der Vorteile des Jobs als Sportvorstand“, sagt er, „man muss nicht am Tag nach einem Spiel sofort wieder auf dem Trainingsplatz stehen, sondern kann auch von zu Hause arbeiten.“ Im Interview spricht Hecking über Nürnbergs besonderen Ausbildungsweg für junge Talente und die Herausforderungen für Traditionsvereine in der Zweiten Liga.
Herr Hecking, was für ein Spiel erwarten Sie gegen den FC St. Pauli?
Die Voraussetzungen für ein gutes Spiel sind gegeben. St. Pauli ist sehr stabil, hat eine gute Spielanlage und spielt sehr attraktiv. Sie haben eine stabile, funktionierende Achse unter anderem mit Wahl, Irvine und Hartel. Das ist sehr beeindruckend.
Wie können Sie dagegenhalten?
Wir haben jetzt zwei Spiele in Folge gewonnen, das ist gut für das Selbstvertrauen. Der Sieg in Magdeburg war ein nächster, wichtiger Schritt in unserer Weiterentwicklung. Bei der 1:5-Niederlage im Hinspiel am Millerntor waren wir noch zu naiv. Zuletzt standen wir in der Defensive viel stabiler. Wenn wir am Sonnabend den Tabellenführer ärgern und Punkte holen, wären hier alle sehr zufrieden. Wir werden versuchen, Lösungen zu finden.
Sie sprachen von Entwicklung. Es fällt auf, dass beim 1. FC Nürnberg viele junge Spieler zum Einsatz kommen. Finn Jeltsch (17), der mit St. Paulis Eric da Silva Moreira U17-Weltmeister wurde, stand zuletzt in der Startformation. Can Uzun (18) gilt inzwischen als eines der größten Talente in Deutschland. Was machen Sie richtig in Nürnberg?
Auch Nathaniel Brown und Jens Castrop sind ja erst 20 Jahre alt. Es wird immer darüber gesprochen, den Nachwuchs zu fördern. Wir haben uns vor dreieinhalb Jahren gefragt, was machen wir wirklich, um die Jungs zu verbessern? Wir haben dann einen sogenannten Perspektivkader gegründet. Dazu gehören Spieler der Altersgruppen U16 bis U20, die wir als Talente identifiziert haben, die den Sprung in den Profibereich schaffen könnten. Diese Ernte geht jetzt auf.
Wie kann man sich diesen Perspektivkader konkret vorstellen?
Diese Spieler erhalten gemeinsam im Nachwuchsleistungszentrum neben dem Training in ihren Teams eine Extra-Betreuung. Das umfasst die Arbeit auf dem Platz, in der Athletik, aber auch im pädagogischen Bereich. Ein Übergangstrainer hält die Verbindung zum Profibereich. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wie zum Beispiel bald in der Länderspielpause, trainieren sie bei den Profis mit oder kommen auch in Freundschaftsspielen zum Einsatz. Wobei dieser Perspektivkader offen ist, da kann sich jemand auch durch starke Leistungen hereinspielen. Wir spüren, dass die Jungs dankbar für diese Möglichkeit sind und sie sehen, dass es eine echte Chance bei uns gibt. Das färbt auf alle Spieler im NLZ ab.
Es droht aber auch der Verlust von Toptalenten. Can Uzun werden Sie doch kaum halten können?
Klar, das ist bitter, einerseits. Ich würde gerne alle diese Spieler bei uns halten. Aber der 1. FC Nürnberg ist aktuell immer noch auf Tranfereinnahmen angewiesen. Und so können wir für einen Zweitligisten außergewöhnliche Erlöse durch Ablösen erzielen. Das war auch Teil des Konzepts, als ich hier angefangen habe. Wir versuchen auch junge Leute wie Jens Castrop aus den Nachwuchskadern von Bundesligisten zu uns zu holen, die es dort noch nicht in den Profikader geschafft haben und bei uns auszubilden. Wir nennen das den zweiten Bildungsweg. Inzwischen bekomme ich ganz viele Anrufe von Beratern 18- bis 20-Jähriger, die ihre Spieler bei uns unterbringen wollen.
Der 1. FC Nürnberg ist einer dieser Traditionsclubs, die sich jeder neutrale Fußballfan in der Bundesliga wünscht. Ist das auch ihr Ziel am Ende der angesprochenen Entwicklung?
Ich würde liebend gerne in die Bundesliga aufsteigen, klar. Man muss aber sagen, dass wir durch die wenig erfolgreichen vergangenen vier Jahre bei den TV-Geldern etwas abgehängt wurden. Vereine wie der HSV, Hertha, Düsseldorf, Hannover und auch der FC St. Pauli haben andere finanzielle Möglichkeiten. Das grenzt unseren Rahmen ein, Qualitätsspieler zu holen. Andererseits ist es für Spieler auch schön, mit einem Traditionsverein eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Und es gibt nichts Schlimmeres als die großen Traditionsvereine, die verschwunden sind, wie Alemannia Aachen, Rot-Weiß Essen oder Kickers Offenbach, um nur drei zu nennen.
Bei Ihnen im Großraum Nürnberg war in den vergangenen Jahren die „kleine“ SpVgg Greuther Fürth erfolgreicher. Ähnlich könnte es in Hamburg nun auch werden. Sehen Sie da aus ihrer Zeit beim HSV Parallelen?
Zunächst ist Rivalität nichts Schlechtes. Bei den Derbys prickelt es in der Stadt. Das ist in Hamburg auch so. Man kann es aber auch sonst vergleichen. In Nürnberg füllt der Club vier Fünftel einer Zeitungsseite, Fürth ein Fünftel. Der Stellenwert der großen Clubs ist viel größer. Wenn St. Pauli jetzt den Aufstieg schafft, muss der HSV das natürlich anerkennen. Aber als HSV hat man einen ganz anderen Druck. Bei St. Pauli machen sie offenbar einen Super-Job, sie haben es aufgrund geringerer Erwartungen auch einfacher. Vom HSV wird dagegen ständig Erfolg erwartet.
Mit dem FC St. Pauli und Holstein Kiel stehen nun zwei eher kleine Vereine auf den Aufstiegsplätzen. Hat der Sportvorstand Dieter Hecking eine Erklärung für die Ausgeglichenheit der Liga?
Es wird überall gut gearbeitet. Man fährt nirgends hin und weiß, da gewinnt man. Es gibt viele große Vereine, dadurch ist das Interesse enorm groß, und es sind auch mehr gute Spieler in der Liga, weil es attraktiv ist. Das Produkt Zweite Liga ist extrem beliebt, wir müssen versuchen, es noch weiter auszubauen und auch die Erlöse zu steigern.
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Sie haben nach dem Ende Ihres Trainerengagements beim HSV im Juni 2020 die Seiten gewechselt und sind Sportvorstand geworden. Wie kam es dazu?
Ich habe schon immer gesagt, dass mich auch die andere Seite interessiert. Nach der Arbeit in Hamburg hätte ich nach 20 Jahren Tätigkeit ohnehin ein Jahr Pause als Trainer gemacht. Dann rief Nürnberg nach der überstandenen Relegation gegen Ingolstadt an und hat gefragt, ob ich mir den Job vorstellen kann. Konnte ich, und ich muss sagen, es macht sehr viel Spaß in dieser Rolle.