Hamburg. Nach der 0:1-Niederlage gegen Holstein Kiel kann der HSV für ein siebtes Zweitligajahr planen. Der Club braucht Veränderungen.
Jonas Boldt war allein auf weiter Flur. Der zweite Teil dieses Satzes aus Ludwig Uhlands Gedicht „Schäfers Sonntagslied“ aus dem Jahr 1805 passte so gut wie nie zum Bild von Boldt am späten Sonnabend im Volksparkstadion. Es war schon kurz vor Mitternacht, als der Sportvorstand des HSV alleine über den weiten Flur der Geschäftsstelle ging. Sein Club hatte eine Stunde zuvor mit 0:1 (0:0) gegen Holstein Kiel verloren und damit die wohl letzte Chance verpasst, noch einmal in das Rennen um den Aufstieg in die Bundesliga einzugreifen. Auch wenn dieser rechnerisch noch möglich ist, wusste auch Boldt, dass diese Saison nicht mehr zu retten ist. Oder wie es in Uhlands Sonntagslied heißt: „Nun Stille nah und fern“.
Im Volksparkstadion allerdings wurde es laut, als sich Boldts Mannschaft am Sonnabend um 22.30 Uhr vor die Nordtribüne bewegte. Kapitän Sebastian Schonlau und seinen Kollegen schlugen Frust, Wut und Enttäuschung entgegen. Es wurde gepfiffen und geschimpft. Bilder, die man so lange nicht gesehen hat im Volksparkstadion, wo Ex-Trainer Tim Walter und die Spieler nach den vergangenen zwei Relegationsniederlagen gegen Hertha BSC und den VfB Stuttgart von den Fans getröstet und gefeiert wurden. Es entstand die von Boldt vielzitierte Einheit.
An diesem Abend fühlte es sich anders an. Und die große Frage, die sich rund um den HSV nun breit macht, lautet: Wie viel Veränderung braucht es nach dem so gut wie sicheren sechsten Nichtaufstieg in Folge? Wer die Mannschaft um die Führungsachse um Schonlau, Jonas Meffert und Robert Glatzel auf dem Platz spielen sah und nach dem Spiel reden hörte, musste feststellen, dass es nach drei Jahren und drei verpassten Aufstiegen an der Zeit ist, eine neue Hierarchie mit neuen Achsenspielern aufzubauen. Diese Aufgabe müsste eigentlich Boldt zusammen mit Sportdirektor Claus Costa und Chefscout Sebastian Dirscherl in Absprache mit Trainer Steffen Baumgart übernehmen. Doch nach dem erneuten Scheitern geht es nun um die Zukunft von allen sportlichen Entscheidungsträgern, angefangen bei Boldt.
Dem 42-Jährigen ist es in seinen fünf Jahren beim HSV zwar immer wieder gelungen, nach den Enttäuschungen zum Ende der Saison ohne finanzielle Luftsprünge stets wieder eine Mannschaft zusammenzustellen, die in der Lage ist, den Aufstieg zu schaffen. Doch nach fünf Jahren muss man bilanzieren: Boldts Mannschaften haben es nicht geschafft. Und sie wird es auch in dieser Saison nicht mehr schaffen. Angesichts von sechs Punkten Rückstand und dem deutlich schlechteren Tordifferenz im Vergleich zum Dritten Fortuna Düsseldorf ist zwar noch „alles möglich“, wie Torhüter Matheo Raab betonte. Doch dafür müsse jetzt ein „Wunder geschehen“, stellte Glatzel richtigerweise fest. „O süßes Graun! geheimes Wehn! Als knieten viele ungesehn. Und beteten mit mir“, heißt es bei Uhland.
Jonas Boldt mag Wortspiele. Von Stoßgebeten Richtung Himmel hält der Funktionär allerdings nichts. Genauso wenig wie HSV-Trainer Steffen Baumgart. „Wir sind Realisten. Die Jungs, die vor uns sind, machen ihre Hausaufgaben und wir nicht. Das ist erst einmal Fakt“, sagte Baumgart nach der Niederlage gegen Kiel, die keinerlei Anlass zur Hoffnung gab, dass dem HSV in den verbleibenden vier Spielen noch ein Wunder widerfährt.
HSV droht Horrorszenario im Volkspark
Im kommenden Heimspiel gegen den FC St. Pauli droht dem Club sogar das Horrorszenario, dass der Stadtrivale im Stadion des HSV den Aufstieg in die Bundesliga perfekt macht. Es wäre für die Fans im Volkspark das Alptraum-Ende einer missratenen Saison, die so vielversprechend begonnen hatte mit 13 Punkten aus den ersten fünf Spielen. Was dann geschah, fasste Meffert am Sonnabend treffend zusammen. „Wir sind selber schuld. Das ist mein Fazit der Saison“, sagte der Sechser. Sechs Platzverweise, zwei Niederlagen gegen den Tabellenletzten VfL Osnabrück – der HSV stellte sich mal wieder selbst ein Bein.
Hinzu kam ein Trainerwechsel zum falschen Zeitpunkt, wie sich im Nachhinein herausstellte. Es ist gleichzeitig der größte Kritikpunkt an Boldt. Der Sportvorstand hatte nach dem 2:0-Sieg zum Hinrundenabschluss beim 1. FC Nürnberg öffentlich erste Zweifel an Tim Walter aufkommen lassen. Damit schwächte er den Trainer, der es wiederum mit seinen von Boldt eingeforderten Maßnahmen übertrieb und einige Spieler auf seinem Weg verlor.
Welche Idee hatte Baumgart mit Öztunali?
Nachfolger Baumgart hatte dann nur wenige Tage Zeit, um der Mannschaft seine Vorstellungen zu vermitteln. In dieser Anfangsphase ließ der HSV gegen Osnabrück und in Düsseldorf wichtige Punkte liegen. Aber auch Baumgart trug mit seinen Maßnahmen nicht gerade zum Erfolg bei. Dass er ausgerechnet im entscheidenden Spiel gegen Kiel auf den in der ganzen Saison glücklosen Levin Öztunali setzte und stattdessen den wiedererstarkten Jean-Luc Dompé 70 Minuten auf der Bank ließ, stieß bei vielen Beobachtern auf Unverständnis. „Bei Dompé ist es so, dass er noch Aufholbedarf hat“, sagte Baumgart, ohne zu beantworten, was seine Idee mit Öztunali gewesen sei.
Öztunali – um zum zweiten Kritikpunkt an Boldts Arbeit zu kommen – ist einer von mehreren Transfers in dieser Saison, bei denen der Sportvorstand daneben lag. Auch Guilherme Ramos, Dennis Hadzikadunic und Immanuel Pherai konnten sich nicht zu konstanten Leistungsträgern entwickeln. Der beste Zugang, Ignace Van der Brempt, fehlte zu häufig wegen Muskelverletzungen. Die Wintertransfers Noah Katterbach und Masaya Okugawa waren keine Hilfe. Zudem verpasste es die sportliche Leitung, im Januar einen neuen Innenverteidiger zu verpflichten.
Genau das sind auch die Kritikpunkte im Aufsichtsrat, der nun zeitnah entscheiden muss, wie es im Vorstand insbesondere mit Boldt weitergeht. Die positivste Erkenntnis des Wochenendes: Erstmals seit fünf Jahren hat der HSV bereits Mitte April Planungssicherheit, in welcher Liga er in der kommenden Saison spielt. Diesen Vorsprung sollte sich der Club in der Transferplanung zunutze machen.
Der HSV braucht zur neuen Saison eine neue Führungsachse
Spieler wie Schonlau, Meffert, Ludovit Reis und Glatzel brauchen nach den wiederkehrenden Enttäuschungen neue Kollegen um sich herum, die ihnen Verantwortung abnehmen. Mit Torhüter Daniel Heuer Fernandes hat der HSV bereits vor Wochen einem Führungsspieler den Stecker gezogen. Der einzig konstante Leistungsträger dieser Saison, Laszlo Benes, wird den HSV dank einer bei Nichtaufstieg greifenden Ausstiegsklausel mit Sicherheit verlassen.
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Paradox: Trotz der möglicherweise schlechtesten Saison der Zweitligageschichte (bislang 54 Punkte 2019/20) wird der HSV aller Voraussicht nach einen neuen Zuschauerrekord aufstellen. Wird nach dem Stadtderby gegen St. Pauli auch das letzte Saisonspiel gegen Nürnberg ausverkauft sein, wächst der Schnitt auf 55.959, womit der Rekord aus der Champions-League-Saison 2006/07 übertroffen wird. Gleichzeitig bedeuten diese Zahlen, dass der HSV im laufenden Geschäftsjahr zum dritten Mal in Folge schwarze Zahlen schreibt. Geld, dass der Club brauchen wird, wenn es im Sommer auf dem weiten Flur der Geschäftsstelle zum großen Umbruch kommen soll.