Magdeburg. Der HSV lag in Magdeburg zur Halbzeit aussichtslos zurück. Doch die Worte von Steffen Baumgart hatten eine große Wirkung.

Als Schiedsrichter Robert Kampka zur Pause pfiff, musste Steffen Baumgart einmal tief durchatmen. Mit 0:2 lag der HSV in Unterzahl beim 1. FC Magdeburg zurück, manche Spieler schlichen bereits mit gesenkten Köpfen in die Kabine. Baumgart stand wie versteinert in seiner Coachingzone, nahm dann seine Schiebermütze ab, strich sich mit den Händen durch die Haare und das Gesicht und folgte seinen Spielern langsam in die Katakomben. Dort, verborgen vor allen Kameras und den 27.090 Zuschauern in der ausverkauften MDCC-Arena, nahm die Aufholjagd des HSV, die mit einem späten 2:2 belohnt wurde, ihren Anfang.

„Es lief alles gegen uns. Man hat vom Trainer direkt gemerkt: Wir halten jetzt zusammen, schlimmer geht es eh nicht mehr“, sagte Mittelfeldspieler Jonas Meffert, der mit seinem Kopfballtreffer in der vierten Minute der Nachspielzeit am Ende nicht nur einen Punkt, sondern – und das war aus HSV-Sicht noch wichtiger – auch die Stimmung rettete. „Wir haben ab der 60. Minute Alles oder Nichts gespielt. Dass wir noch das 2:2 machen, macht mich richtig stolz“, sagte Meffert. Und Torhüter Matheo Raab ergänzte: „Aus der zweiten Halbzeit müssen wir viel Kraft für die letzten Spiele ziehen. Das war außergewöhnlich.“ Das Problem: Der Rückstand auf den Relegationsplatz war dennoch auf drei Punkte angewachsen.

Baumgart sah kein Problem mit langen Bällen

Auch insgesamt ließen die frischen Eindrücke des späten Punktgewinns in Unterzahl die negativen Seiten des HSV-Spiels etwas in den Hintergrund rücken. Zur Wahrheit gehörte nämlich auch, dass die Hamburger bei einem abstiegsbedrohten Club schon zur Pause mit drei oder vier Toren hätten zurückliegen können.

Abgesehen davon, dass die Baumgart-Elf unter dem Magdeburger Pressing samt der beeindruckenden Kulisse nach einer kurzen eigenen Druckphase in der ersten Halbzeit kaum zur Entfaltung im Spielaufbau kam, überrumpelte der 1. FCM den HSV gleich mehrfach mit langen Bällen.

„Mehrfach? Ich habe einen freien Ball gesehen und das war der Ball vor dem 0:1“, entgegnete HSV-Coach Steffen Baumgart nach dem Spiel auf Abendblatt-Nachfrage. „Wenn wir einen Gegner hoch anlaufen, ist es ein klares Mittel, den Ball hinter unsere Kette zu spielen. Das haben wir aus meiner Sicht sehr gut verteidigt. Oder haben wir da Torchancen gesehen? Da muss man mir noch mal helfen.“

Lange Chipbälle hinter die Kette reichten, um den HSV zu übertölpeln

Kein Problem. Neben dem langen Ball vor dem Elfmeter zum 0:1 (26. Minute) lief Magdeburgs Jan-Luca Schuler auch in der 40. Minute nach einem langen Ball völlig frei auf das Hamburger Tor zu, vergab dann allerdings kläglich. Und rund neun Minuten später reichte vor dem zweiten Elfmeter wieder ein langer Ball aus, um die HSV-Abwehr völlig auszuhebeln. „Es waren zwei Chipbälle, die über die Kette fliegen und die wir anders verteidigen müssen. Wir kriegen keinen Druck drauf und stehen als Kette zweimal zu hoch“, gestand auch Kapitän Sebastian Schonlau.

Unabhängig von der viel zu billigen Entstehung der beiden Strafstöße, ärgerten sich die Hamburger vor allem über die Pfiffe von Schiedsrichter Robert Kampka. Insbesondere die erste Szene, als Schuler zum ersten Mal entwischt war und der hinterhersprintende Innenverteidiger Guilherme Ramos den Magdeburger Angreifer mit einem Stoß in den Rücken zu Fall brachte, ärgerte die Hamburger kolossal. „Jeder in diesem Stadion hat gesehen, was der Stürmer in diesem Moment wollte. Ich verstehe nicht, wie man darauf reinfallen kann. Der ist 1,90 Meter groß und wiegt wahrscheinlich fast 100 Kilo. Das war eine Fehlentscheidung“, sagte Meffert. Doch auch nach Überprüfung durch den Videoassistenten, der den entscheidenden Kontakt innerhalb des Strafraums verortete, blieb es dabei, dass Ramos mit Rot vom Platz flog und Mohammed El Hankouri per Elfmeter zum 0:1 traf.

Kurz vor der Pause war es dann Magdeburgs Leon Bell Bell, der wieder weitestgehend frei auf Raab zulief. Der HSV-Keeper, der beim Herauslaufen bereits in vergangenen Spielen Probleme offenbart hatte, verschätzte sich, schlug ein halbes Luftloch. „Ich habe den Ball mit dem Schienbein zum Eckball berührt“, sagte Raab. „Der Schiedsrichter sagte, dass der Magdeburger runtergerissen worden sei und es keinen Gesprächsbedarf gebe.“

Baumgart kritisiert Schiedsrichter Kampka

Denn auch der lange Zeit schwache Aushilfsverteidiger Ludovit Reis war zurückgeeilt, dann aber von hinten in Bell Bell und Raab unglücklich hineingerasselt. „Da laufen drei Mann ineinander rein. Ich weiß nicht, ob er sich für die Unterzahl entschieden hat. Ich habe kein Foul gesehen. Alle wollen zum Ball“, schimpfte Baumgart. „Jeder macht Fehler. Ich fand die ganze Leitung heute nicht gelungen. Heute bin ich ein bisschen enttäuscht von Robert Kampka. Vielleicht rudere ich morgen wieder zurück. Heute sage ich aber, dass er einen großen Anteil daran gehabt hat, dass wir unser Ziel nicht erreicht haben.“

Doch trotz des vermeintlich aussichtslosen Rückstands bewies der HSV einmal mehr, dass man ihn nicht zu früh abschreiben darf. Neben Baumgarts Halbzeitansprache waren insbesondere die Einwechslungen von Linksaußen Jean-Luc Dompé und Stürmer Robert Glatzel, der sein Comeback nach überstandener Oberschenkelverletzung feierte, entscheidend. „Dompé war Wahnsinn, dem musste man nur den Ball zuspielen und es kam fünf Sekunden später eine Flanke“, sagte Meffert. „Auch bei Bobby (Robert Glatzel, d. Red.) hat man seine Präsenz gemerkt.“

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Spätestens der 1:2-Anschlusstreffer durch Schonlau (68.), dem der Ball im Strafraum eher zufällig vor die Füße gefallen war, war der Beginn einer beeindruckenden Schlussoffensive, an deren Ende 22 Torschüsse (Saisonhöchstwert in Auswärtsspielen) standen, darunter zwei Lattentreffer und der umjubelte Ausgleich von Meffert. Es war bereits das dritte Mal in dieser Saison, dass der HSV nach einem Zweitorerückstand punktete – und man sich fragte: Warum nicht gleich so?

Magdeburg: Reimann – Hoti, Gnaka, Heber – Bockhorn, El Hankouri (90. Kuhinja), Condé, Bell Bell – Teixeira (68. Ito), Schuler (80. Lawrence), Atik (80. Nollenberger).

HSV: Raab – Ramos, Schonlau, Muheim – Reis, Meffert – Pherai (30. Ambrosius), Benes – Jatta (61. Dompe), Nemeth (61. Glatzel), Königsdörffer (84. Okugawa).

Tore: 1:0 El Hankouri (26., Foulelfmeter), 2:0 El Hankouri (45.+7, Foulelfmeter), 2:1 Schonlau (68.), 2:2 Meffert (90.+4). Zuschauer: 27.090 (ausverkauft). SR: Kampka (Mainz). Rot: Ramos (24./Notbremse). Gelb: Schuler (4), Condé (2). Statistik: Torschüsse: 14:22, Ecken: 3:9, Ballbesitz: 54:46 Prozent, Zweikämpfe: 82:98.