Hamburg. HSV-Sportvorstand Boldt verzichtet auf einen schnellen Trainerwechsel. Das kann sich in den nächsten Tagen aber noch ändern.

Zwei Tage vor Heiligabend 2023 veröffentlichte der HSV eine Mitteilung auf seiner Internetseite. „Tiefgehender Austausch, Analyse abgeschlossen“, lautete damals der etwas sperrige Titel der drei Absätze, in denen das Festhalten an Trainer Tim Walter erklärt wurde. „Detailversessen“, betonte Sportvorstand Jonas Boldt, seien alle Beteiligten in der Analyse gewesen.

Nachdem Walters Taktik in den Wochen zuvor mal wieder zu einer Flut an Gegentoren geführt hatte, habe man nun einen klaren Plan, um dem entgegenzusteuern. „Wir sind überzeugt, dass wir so die nächsten Schritte machen werden, um als Team noch stabiler, resilienter und erfolgreicher aufzutreten“, sagte HSV-Profifußballdirektor Claus Costa.

HSV macht unter Walter Schritte zurück

Etwas mehr als sieben Wochen sind seit dieser Mitteilung vergangen. Schritte nach vorne machten Walter und Costa am Sonnabendvormittag, als sie demonstrativ Seite an Seite zum Spielersatztraining gingen. Ansonsten gab es in den vergangenen Wochen im Volkspark vor allem Schritte zurück. Beim Abwehrverhalten, beim Selbstvertrauen der einzelnen Spieler und bei der grundsätzlichen Cleverness. Aber der Reihe nach.

Beim 3:4 gegen Hannover am Freitagabend kassierten die Hamburger nicht nur beim zweiten Heimspiel in Folge vier Gegentore, sondern bestätigten einen Rückwärtstrend, der auch Boldt nicht verborgen geblieben ist. Der 42-Jährige, der in der Vergangenheit unerschütterlich an Walters Seite gestanden hatte, traf am Wochenende zwar keine schnelle Entscheidung für eine Entlassung, sieht Walter nach Abendblatt-Informationen doch zunehmend kritisch.

Von der Öffentlichkeit treiben lassen wollte sich der Sportvorstand aber nicht. Wenn eine Entscheidung fällt, soll sie gut vorbereitet sein.

Walter? Boldt hört sich bei den Spielern um

Konkret bedeutet das, dass Boldt und sein Team am Wochenende viele Gespräche führten. Abgesehen von der Aufarbeitung der Heimpleite mit dem Trainerteam hörte sich der Vorstand auch innerhalb der Mannschaft um, ob diese weiterhin hinter Walters Spielidee steht.

„Auf jeden Fall“, antwortete Stürmer Robert Glatzel am Freitag auf eine entsprechende Frage. Überraschend war das nicht, schließlich dürfte kaum ein Spieler dem Trainer öffentlich in den Rücken fallen. Intern kann das aber durchaus anders aussehen, zuletzt ließen einzelne Spieler zumindest im Unterton vermehrt durchklingen, dass taktische Fehler begangen wurden.

Gegen Hannover waren gleich mehrere große Probleme erkennbar. Zum einen war der HSV nicht ausreichend auf das Hannoveraner Pressing vorbereitet, geriet somit im Spielaufbau immer wieder unter Druck. „Mein Fokus liegt nur bei uns und nicht beim kleinen HSV“, hatte Walter vor dem Spiel über die Gäste gesagt. Ein Satz, der typisch für seine Art ist. Nach dem Spiel sagte der 48-Jährige: „Es ist schwierig, das (die Gegentore; d. Red.) zu erklären, das muss man ehrlich sagen.“

HSV liegt zu häufig mit zwei Toren zurück

Dabei ist es gar nicht so schwierig. Neben dem Hannoveraner Pressing kam der HSV auch mit den regelmäßigen Chipbällen über die Abwehrkette nicht zurecht. Und nachdem sich die Hausherren nach 0:2- und 1:3-Rückständen wieder auf 3:3 herangekämpft hatten, liefen sie in der Schlussphase ins offene Messer – obwohl Laszlo Benes 18 Minuten vor dem Schlusspfiff Rot gesehen hatte und der HSV in Unterzahl agierte.

Die Tabellenspitze der 2. Bundesliga
1. Kiel 29 / 59:34 / 58
1. FC St. Pauli 29 / 54:32 / 57
3. Düsseldorf 29 / 63:35 / 52
4. HSV 29 / 55:41 / 49
5. Hannover 29 / 51:36 / 45
6. Hertha 29 / 60:48 / 44
7. Karlsruhe 29 / 58:43 / 43
8. Fürth 29 / 40:42 / 42

„Es ist dumm. Wir wollen zu viel in dem Moment“, sagte Glatzel. Walter aber verpasste es, seine Mannschaft in dieser spielentscheidenden Phase zu mehr Ruhe und Stabilität zu bewegen. Auf eine ähnliche Art und Weise gab der HSV schon zwei Wochen zuvor gegen Karlsruhe (3:4) sowie in Kiel (2:4) oder im Hinspiel beim KSC (2:2) Punkte aus der Hand.

Ohnehin scheint sich defensiv kein Lerneffekt einzustellen. Gegen Hannover geriet der HSV zum sechsten Mal in dieser Saison innerhalb der ersten 20 Minuten in Rückstand. Nach diesen frühen Gegentoren holten die Hamburger nur zwei Punkte, vier Partien gingen gar verloren. Einen Zwei-Tore-Rückstand gab es in dieser Saison ebenfalls schon sechsmal.

HSV und Walter: Passt das noch?

„Wir stehen immer wieder auf“, betonte Walter nach dem Hannover-Spiel. Doch es bleibt die Frage, wieso die Mannschaft in großer Regelmäßigkeit überhaupt erst auf dem Boden liegt?

Während der HSV in der Vergangenheit zumindest über große Ballbesitzanteile und eine gewisse Spielkontrolle verfügte, entwickelten sich in den jüngsten Spielen offene Schlagabtausche, die auch Boldt kritisch beäugt. Die zentrale Frage, die den Sportvorstand umtreibt, dreht sich nun darum, ob das große Ganze zwischen Team und Trainer nicht mehr stimmt?

Während Walter in den vergangenen Wochen immer wieder betonte, dass vor allem individuelle Fehler zu Gegentoren führten, will Boldt dieses Narrativ als Ausrede nicht mehr gelten lassen. Er sieht den Trainer vielmehr in der Pflicht, den Spielern ein besseres Gefühl zu vermitteln.

HSV-Profis wirken verunsichert

Tatsächlich wirken viele Profis derzeit planlos und verunsichert. Selbst Rechtsverteidiger Ignace Van der Brempt, eigentlich ein Akteur mit Bundesligapotenzial, ist nicht wiederzuerkennen. Und auch Innenverteidiger Stephan Ambrosius, vor wenigen Wochen mit seiner Zweikampfstärke noch als Innenverteidiger Nummer eins gesetzt, leistete sich zuletzt haarsträubende Aussetzer.

Auch unter den Fans bröckelt der Rückhalt für Walter. Freundeten sich die Anhänger in der Winterpause noch mehrheitlich mit einer weiteren Chance für den Coach an, waren beim Hannover-Spiel klare Kipppunkte zu erkennen, als zur Halbzeit und nach dem Schlusspfiff laute Pfiffe zu hören waren. Für erste Risse hatte bereits das Achtelfinalaus im DFB-Pokal bei Hertha BSC gesorgt, als Walter seine Startelf komplett umbaute. Nach Ansicht einiger Fans vergab der Trainer damit eine historische Chance, in diesem Wettbewerb für einen großen Erfolg zu sorgen.

Noch kein HSV-Kontakt zu Baumgart

Der logischste Kandidat für eine Walter-Nachfolge bliebe Steffen Baumgart. Wie das Abendblatt erfuhr, gab es jedoch noch keine Kontaktaufnahme zwischen dem HSV und dem früheren Trainer des SC Paderborn und 1. FC Köln, der mit seiner Ehefrau Katja auf Instagram Urlaubsfotos aus Dubai postete.

Auch wenn sich der HSV mit dem Namen Baumgart beschäftigt, soll Boldt den 52-Jährigen nicht unkritisch sehen, weil dieser in Paderborn und Köln nicht für langfristigen Erfolg sorgte. Zudem ähneln sich Walters und Baumgarts Spielideen – mit dem feinen Unterschied, dass Baumgart bereits einen Bundesligaaufstieg nachweisen kann. Darüber hinaus sehen die HSV-Verantwortlichen bei einem Trainerwechsel immer die Gefahr, dass den Spielern ein Alibi gegeben werden könnte, ihre Verantwortung an den neuen Übungsleiter abzugeben.

Am Sonntagabend sah es danach aus, als würde Walter am Montagnachmittag beim Trainingsauftakt vor dem Auswärtsspiel bei Hansa Rostock (Sa., 13 Uhr) auf dem Platz stehen. Dies ist aber (noch) nicht als klare Entscheidung für Walter zu deuten. Tatsächlich kann es auch zu Beginn dieser Woche sein, dass etwa auf der turnusmäßigen Vorstandssitzung am Dienstag ein Trainerwechsel beschlossen wird. Die entsprechende Mitteilung auf der HSV-Webseite wäre für Walter eine nicht ganz so schöne Bescherung wie noch vor sieben Wochen.